Liebeslieder, Elfen und die EU: Unsere zwölf Stunden lange Zugfahrt nach Brüssel hat sich gelohnt! Dort haben wir die Performance Again the Sunset der jungen isländischen Künstlerin Inga Huld Hàkonardòttir miterlebt, in der es um Intimität, Liebe und die Wiederholung des ewig Gleichen geht. Am 7. März wird sie mit dem zauberhaften Stück das Festival imagetanz eröffnen, das heuer zum 31. Mal von brut Wien veranstaltet wird (bis 28. März). Wir trafen sie in ihrer Wohnung zum Interview und sprachen über ihre bekannte Großmutter, den isländischen Hang zur Mystik und die Reaktionen ihres Publikums.
Die Performances „Again the Sunset“ und „Panflutes and Paperwork“ (von Ingrid Berger Myhre und Lasse Passage) werden am 7. März das imagetanz 2020 – Festival für Neues aus Choreographie und Performance eröffnen. Am Tag darauf werden die beiden Stücke erneut zu sehen sein.
Lara Ritter: Du trägst denselben Namen wie deine Großmutter. Sie war Historikerin, Autorin, Journalistin und eine Pionierin auf dem Gebiet der Frauengeschichtsforschung. Welche Rolle hat sie in Deinem Leben gespielt?
Inga Huld Hàkonardòttir: Meine Großmutter war eine sehr liebe Frau, sie hat sich gern um ihre Enkelkinder gekümmert und konnte gut Geschichten erzählen. Wenn ich als Kind bei ihr war, las sie mir oft ein komplettes Buch vor, das konnte durchaus mal einen Tag lang dauern. Eine tolle Erinnerung und vor allem eine schöne Erfahrung, als junger Mensch so viel Aufmerksamkeit zu erhalten. Viele Menschen realisieren nicht, wie wertvoll das für Kinder ist.
Am 7. und 8. März 2020 wirst Du im Rahmen des imagetanz-Festivals die Performance „Again the Sunset“ in Wien aufführen. Ich durfte sie ja bereits hier in Brüssel miterleben und bin begeistert! Vor allem die Gefühlsintensität und die Sinnlichkeit des Stücks haben mich berührt. Das Liebeslied, das Du während der Performance mal singst, mal stöhnst, mal krächzt hat mit der Geräuschkulisse und Euren Bewegungen eine sehr stimmige Komposition ergeben – hast Du das Lied extra für dieses Stück geschrieben?
Als ich es geschrieben habe, dachte ich an ein Buch meiner Oma. Sie hat mal einen Roman verfasst, der von Liebesgeschichten in Island handelt. Die Geschichten spielen in einer Zeit, als Island christianisiert wurde und man neue Gesetze einführte, die die Rechte von Frauen stark einschränkten – ihre Erfahrungen stehen im Zentrum des Romans. Beim Schreiben des Liedes habe ich mich gefragt, welche Geschichten sich über Generationen hinweg wiederholen, welche Muster sich bis in die Gegenwart stets ähneln.
Die Wiederholung habt Ihr sehr schön in der Performance verbildlicht. Als Du und Yann mit jeweils einer Axt auf einem Holzscheit gestanden seid und darauf eingehämmert habt, hat es sich durch die Schläge wie ein Sekundenzeiger im Kreis bewegt – diese Szene werde ich so schnell nicht vergessen. Geht es in Deinem Liebeslied nicht nur um Liebe, sondern auch um Unterdrückung?
Genau, ich war sehr inspiriert von den Bemühungen der Frauen in dem Roman, gegen Unrecht anzukämpfen. Ich habe in meinem Lied versucht, über Unterdrückung in einer Art und Weise zu schreiben, die Frauen nicht als passive, sondern als aktive Personen darstellt, die handeln und versuchen, Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden.
Sind die Bücher Deiner Großmutter Grundlage aller Ideen für Deine Performances?
Ihre Publikationen haben mich jedenfalls oft beschäftigt. Vor einigen Jahren ist sie gestorben. Seitdem habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, was es für mich heißt, ihren Namen zu tragen, und was es für mich bedeutet, dass sie Geschichten über Frauen erzählt. Ich habe das Gefühl, für die Arbeiten, die sie hinterlassen hat, ein wenig Verantwortung zu tragen. Zu Beginn der Performance „Again the Sunset“ standen aber vor allem der Wille, etwas Intimes zu kreieren, und die Frage, wieso manche Dinge Menschen, die Liebeslieder schreiben, immer ähnlich beschäftigen.Ich fand es spannend, Elemente, die sich in diesen Liedern wiederholen, als Ausgangspunkt zu verwenden und sie in etwas Neues zu verwandeln.
„Wenn die Zuschauerinnen Details bemerken, an denen wir intensiv gearbeitet haben, macht mich das glücklich.“
Die Performance „Again the Sunset“ hat Inga Huld Hàkonardòttir gemeinsam mit dem französischen Soundkünstler Yann Leguay entwickelt. Im Stück geht es um Intimität, Beziehungen und die Macht der Wiederholung. Besonders eindrucksvoll ist die Geräuschkulisse, mittels der ein sinnliches Spektakel kreiert wird, das die Zuschauerinnen in seinen Bann zieht.
Bankerinnen wollen Millionen verdienen, Schauspielerinnen den Oscar gewinnen und Wissenschaftlerinnen den Nobelpreis verliehen bekommen. Was ist Dein Ziel als Performerin?
Auf jeden Fall nicht, Awards zu gewinnen. Es gibt ein Zitat von Elton John, das lautet ungefähr so: „Awards sind nett, aber als mein Vater meine Songs in der Dusche sang, wusste ich, dass ich es geschafft hatte.“ Diesen Satz finde ich sehr treffend. Mein Ziel ist es, mit meinen Performances bei anderen etwas auszulösen.
Wann ist Dir das gelungen?
Bei der Performance „Again The Sunset“ zum Beispiel. Das, was darin geschieht und gesagt wird, bezieht sich aufeinander. Manche Menschen messen bei Performances dem Text nicht allzu viel Bedeutung bei, aber die Leute, die genau zuhören, merken, dass das zusammengehört, und sind davon begeistert. Wenn die Zuschauerinnen Details wahrnehmen, an denen wir intensiv gearbeitet haben, macht mich das glücklich.
Das ist mir auch aufgefallen! Es hat mich beeindruckt, wie Deine Worte jeder Bewegung einen neuen Sinn gegeben haben. Du kommst aus einer kleinen Gemeinde in Island, lebst mittlerweile in Brüssel, man könnte sagen im „Herzen der EU“. Wann merkst Du im Alltag, dass in dieser Stadt die europäischen Fäden zusammenlaufen?
Brüssel fühlt sich nach einer großen Stadt an, obwohl es recht klein ist. Das liegt wohl daran, dass hier Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien leben, was ich sehr bereichernd finde. Dass sich die Performance-Szene in Brüssel aus Leuten verschiedenster Nationen zusammensetzt, ist auch das, was ich so reizvoll finde. Die unterschiedlichen Sprachen sind dabei kein Hindernis, denn mit Tanz kann man sich untereinander immer leicht verständigen.
„Mit Tanz kann man sich untereinander immer leicht verständigen.“
Gemeinsam mit der amerikanischen Performance-Künstlerin Katie Vickers hat Inga ihre erste Performance mit dem Namen „Slogan for Modern Times“ gestaltet. Darin erforschten sie „den Terror, der den gegenwärtigen Moment als Geisel nimmt“.
In meiner Kindheit in Island habe ich sehr viel getanzt und Geige gespielt. Bis ins Teenagerinnenalter verbrachte ich sehr viel Zeit mit diesen Hobbys. Dann habe ich von P.A.R.T.S., einer Schule für zeitgenössischen Tanz in Brüssel, gehört. Es hieß, es sei ein guter Ort, um die eigene Kreativität zu entwickeln. Damals wusste ich schon, dass ich gestalten möchte, hatte aber keine Ahnung, wie das genau funktioniert. Mit der Zeit habe ich dort offensichtlich ein Verständnis dafür entwickelt – seitdem performe ich (lacht).
In Island spielt Mystik eine wichtige Rolle, viele glauben an Elfen, Trolle und Feen. Was unterscheidet das Leben dort vom Leben in Belgien ?
Die Verbindung mit der Natur! In Island ist man nie weit entfernt von ihr. Egal, wo man ist, es gibt entweder einen Berg oder einen See in der Nähe. Auch das Klima ist sehr anders, das macht den großen Unterschied, es verändert die Menschen und ihren Alltag. In Island ist das Wetter hart, im Winter lange dunkel, wenn man unterwegs ist, wird das schon manchmal ein Kampf mit Sturm und Kälte. Wer nicht den Willen hat, diesen auszutragen, bleibt besser daheim. Wegen der extremen Natur gibt es auch den Hang zur Mystik, mit ihr, so glauben wir, können wir die extremen Elemente verstehen – zumindest mental.
Glaubst Du an Elfen?
Nein, aber ich denke, dass es vielleicht Energielevel gibt, die in Zukunft noch entdeckt werden könnten. Ich liebe die Mystik. In Island existiert etwa der Glauben an Menschen, die in Steinen leben. Mein zweiter Name „Huld“ bedeutet übrigens „versteckte Person“.
„Wegen der extremen Natur gibt es in Island diesen Hang zur Mystik.“
brut Wien veranstaltet das imagetanz-Festival heuer zum 31. Mal. Dieses Jahr finden wieder fünf österreichische Erstaufführungen, fünf Uraufführungen, Partys und Diskussionen an verschiedenen Veranstaltungsorten statt. Das Motto lautet „We dance what you think“.
Mit Deinen Performances tourst Du durch ganz Europa. Du bist in Schweden, der Türkei, Polen, Frankreich und Deutschland aufgetreten. Verändert sich eine Performance von Ort zu Ort?
Auf jeden Fall. „Again the Sunset“ haben wir an vielen verschiedenen Orten aufgeführt: in privaten Wohnungen, besetzten Häusern, bei Festivals, in großen und kleinen Theatern und auf Konzertbühnen. Wir standen vor einem buntem Publikum, das uns mit den verschiedensten vorgefertigten „Filtern“ begegnet ist. Brüssel war ein besonders toller Ort, um die Performance aufzuführen, denn die Rauheit dieser Stadt passt auch zur Rauheit unserer Show.
Waren die Reaktionen auf Eure Performance manchmal unerwartet stark?
Einmal haben wir bei einem Event performt, das eine Freundin mit ihrem Partner organisiert hatte. Bevor es jedoch stattfinden konnte, ist er verstorben. Meine Freundin wollte den Abend aber trotzdem veranstalten, weil es Teil seiner Arbeit war und das Letzte, was er hinterlassen hatte.
So ist die Performance zu einer Art Memorial geworden, in Erinnerung an ihn?
Es war nicht nur ein Trauern, sondern auch eine Art, ihn zu feiern. Das
Überraschendste war, dass es im Text der Performance, wo es auch darum geht, jemanden zu verlieren, in diesem Kontext plötzlich um ihn
ging. Seine Partnerin war berührt, und es war schön zu sehen, dass
unsere Arbeit einen wirklichen Einfluss auf das Leben einer Person haben
kann, die gerade eine schwere Zeit durchlebt. Wir waren glücklich, Teil
von so etwas Großem zu sein.
„Geräusche inspirieren mich und regen meine Vorstellungskraft an.“
Dass sich Inga und ihre Kollegin Rósa Ómarsdóttir hier zum Verwechseln ähnlich sehen, ist kein Zufall: Im Stück „The Valley“ (2017) spielen die beiden Doubles voneinander und gehen der Frage nach, inwiefern die virtuelle Welt real ist.
Entstehen Deine Performances im Kopf oder in der Bewegung?
Zu Beginn versuche ich, Materialien zu finden, die zu meinen Ideen passen. Dann experimentiere ich und schaue, was damit möglich ist. Als wir die Performance „Again the Sunset“ entwickelt haben, entdeckten wir viel Unerwartetes. Es ist harte Arbeit, offen für neue Entdeckungen zu bleiben, denn manchmal bedeutet das, die eigentliche Idee fallen zu lassen. Wenn man sich an diese klammert, kommt man einfach nicht weiter.
Das Stück „Again the Sunset“ ist Performance und Konzert zugleich, denn es wird von Geräuschen dominiert und geleitet. Als ich die Performance gesehen habe, hat mich die Intensität der Geräuschkulisse gefesselt. Sie hat den gesamten Raum eingenommen und eine wahnsinnig packende Atmosphäre kreiert! Was ist ein gutes Geräusch für Dich?
Aktuell mag ich den Klang meiner metallenen Trinkflasche sehr gerne, denn dieses „Blubb“-Geräusch, wenn sich das Wasser in ihr bewegt, ist schon komisch (lacht). Was solche akustischen Dinge betrifft, bin ich recht seltsam gestrickt. Geräusche inspirieren mich und regen meine Vorstellungskraft an.
Ein Klopfen, ein Hämmern, ein Singen, ein Keuchen – Geräusche spielen in vielen von Ingas Performances eine wichtige Rolle. Hier performte sie mit James McGinn im Stück „Ing an Die“ (2014).
Welches Geräusch magst Du nicht?
Das Kratzen von Nägeln auf einer Tafel zum Beispiel. Es ist faszinierend, welch starke Wirkung solche Geräusche auf unseren Körper haben.
Bald kommst Du nach Wien, um dort zu performen. Warst Du davor schon mal dort?
Ja, ich habe mal an einem Programm des impulstanz-Festivals teilgenommen, bei dem man fünf bis sechs Wochen damit verbringt, Workshops zu besuchen und Shows anzuschauen — ich habe rund 52 Vorstellungen besucht. Dadurch habe ich viel über Performances gelernt und einige Leute getroffen, es war schön, die Stadt so kennenzulernen. Danach noch ein paarmal, um bei anderen Performances mitzuwirken.
„Es ist brutal, wie die Dinge in der Welt und in Europa gerade laufen.“
Im Zuge der Performance „We Will Have Had Darker Futures“ forderten Katie Vickers, Rebecca Stillman und Inga das Publikum zum Fingerstricken auf. Ihr Ziel war es, dadurch ein Gefühl von Zeitlosigkeit zu kreieren.
Welches Lied hast Du zuletzt gehört?
Da gibt es einen Track, den ich zuletzt oft gespielt habe – „Not in Control“ vom Londoner Produzenten Celestial Trax. Eine Zeile in dem Lied lautet: „Listen to me, everything’s going to be alright.“ Das ist wie ein Mantra. Es ist ein lustiges Lied, gleichzeitig schön und auf eine magische Art beruhigend. In Momenten, in denen die Dinge hart sind, höre ich dieses Lied und fühle mich wieder gut.
Was macht Dir Angst?
Ich denke, ich verängstige mich häufig selbst. Oft habe ich Angst, Termine zu vergessen oder zu verpassen. Auf größerer Ebene macht mir gerade der Nationalismus Angst – es ist brutal, wie die Dinge in der Welt und in Europa gerade laufen. Ich finde das gefährlich, wenn man darüber nachdenkt, was Nationalismus in der Vergangenheit ausgelöst hat. Ich werde keinen dritten Weltkrieg prophezeien, aber die Art, wie wir Flüchtlinge ausgrenzen und nicht aufeinander Acht geben, sondern Grenzen kreieren, ist beängstigend. Zwar fühle ich mich sicher, dort wo ich lebe, und kann mich glücklich schätzen, in einer privilegierten Situation zu sein, aber trotzdem besorgt mich die derzeitige politische Situation in vielen Ländern.
Inga Huld Hákonardóttir wurde in Höfn (Island) geboren, seit rund zehn Jahren lebt und arbeitet sie in Brüssel. 2014 hat sie ihr Studium an der P.A.R.T.S. (Schule für zeitgenössischen Tanz) abgeschlossen und ist seitdem als Performerin, Tänzerin und Choreografin tätig. In der Vergangenheit hat sie intensiv mit der Performance-Künstlerin Rósa Ómarsdóttir zusammengearbeitet, zu ihren gemeinsamen Projekten gehören „The Valley“, „Wilhelm Scream“ und „Da Da Da Dans“.
Zusammen mit der amerikanischen Performancekünstlerin Katie Vickers hat sie die Stücke „Slogan for Modern Times“ und „We Will Have Had Darker Futures“ kreiert (Letzteres als Trio mit der Choreografin Rebecca Stillman). Seit 15. März 2019 performt sie gemeinsam mit dem französischen Soundkünstler Yann Leguay das Stück „Again The Sunset“, das sie bereits in zahlreichen europäischen Städten gezeigt haben.
Die Reise nach Brüssel erfolgte auf freundliche Einladung von brut Wien.