Die Lust

Irgendwann versteht man, was einem guttut

Grenzen? Die gibt es für Ulli Lust eher nicht. Mit ihren autobiografischen Graphic Novels, in denen sie ihre Erlebnisse als junge Punkerin festhält, avancierte die gebürtige Niederösterreicherin zu einer der renommiertesten Comiczeichnerinnen im deutschsprachigen Raum. Ein Gespräch darüber, wie es ist, alle vor den Kopf zu stoßen, wieso Selbstzerstörung gute Geschichten liefert und Prüderie nicht ihr Ding ist. Die Fotos hat die österreichische Fotografin Maša Stanić in Berlin für uns geschossen.

Text: Lara Ritter, Fotos: Maša Stanić

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„Gestatten, Luuuuust!“

Lara Ritter: Ulli Lust – Dein echter Name?

Ulli Lust: Ja und nein. Lust ist der Mädchenname meiner Mutter. Als sie meinen Vater heiratete, erhielt sie den ziemlich langweiligen Nachnamen „Schneider“. Als mir irgendwann einfiel: „Ich hätte Ulli Lust heißen können!“, lachte ich erst mal laut. Dass „Ulli Lust“ ein Anagramm zu „Illustration“ ist, fand ich noch kurioser und entschied mich dazu, den Namen anzunehmen. Die Namensänderung war kein Problem, es gibt sie ja, die Familie Lust im Pulkautal im Weinviertel. Mein Onkel Erich stellte sich immer vor mit: „Gestatten, Luuuuust.“ 

Du bist in Niederösterreich aufgewachsen, Wahl-Berlinerin, Ex-Punkerin und eine der bedeutendsten Comiczeichnerinnen im deutschsprachigen Raum. Was bist Du für eine Person?

Das kommt darauf an, mit wem ich es gerade zu tun habe. Ich unterrichte seit einigen Jahren Illustration an der Hochschule Hannover, damit geht eine Persönlichkeitsspaltung einher. Als Autorin kann ich viel mehr wagen, als wenn ich vor einer Gruppe junger Studenten stehe. Die sind mit Ironie schnell überfordert und leicht verschreckt, da muss ich mich sehr zurückhalten. Aber vielleicht sind das ja auch nur die deutschen Studenten.

Also neigst Du dazu, andere zu verschrecken?

Das würden viele bejahen (lacht). Aber ich bin nicht stolz darauf.

„Bist du wahnsinnig?“

Wie viel Punkerin steckt noch in Dir?

Ich habe es geschafft, als Comicautorin zu überleben, das ist ziemlich nah an der idealen Existenz einer Punkerin dran. Ich kann machen, worauf ich Lust habe. 

In einem YouTube-Video demonstrierst Du Deinen obligatorischen Nachmittagsschlaf – sieht so ein komplett befreiter Alltag aus?

Die meiste Zeit bin ich damit beschäftigt, mir etwas vorzustellen. Diesem Bedürfnis unterwerfe ich alles andere, das macht mir Spaß, da lebe ich auf. Der Nachmittagsschlaf ist eine gut bewährte niederösterreichische Technik, um sich kurz zu erfrischen. Bei den Bauern war das notwendig, weil die um fünf Uhr morgens aufstehen mussten, aber auch dann, wenn du künstlerisch tätig bist, sind diese Pausen wichtig, um das Vorstellungsvermögen zu trainieren. 

In dem bereits erwähnten Video rauchst Du auch einen Joint – zeichnest Du besser, wenn Du high bist?

Zwischendurch kann einen das auf gute Ideen bringen, aber komplett high zu zeichnen, das funktioniert nicht. Ich muss dabei wahnsinnig konzentriert sein, jeder halbe Millimeter verändert den Ausdruck. Es gibt Grenzen. 

Auch für Ulli Lust?

Meine Grenzen habe ich mit den Jahren kennengelernt, Selbstzerstörung liegt mir nicht mehr. Irgendwann versteht man, was einem guttut und was nicht. Seit es mir gut geht, habe ich aber nicht mehr so viel Material für Geschichten. 

„Selbstzerstörung liegt mir nicht mehr.“

Im Herbst 2009 erschien der Graphic Novel „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ – Dein Durchbruch. Das Buch ist autobiografisch und erzählt, wie Du mit 17 die Schule abgebrochen hattest, um mit Deiner „nymphomanischen Freundin Edi“ ohne Geld und Papiere nur mit Schlafsack und je einem T-Shirt zum Wechseln von Wien bis nach Sizilien zu fahren. Das originellste Ereignis?

... war aus heutiger Sicht womöglich, wie ich meine Freundin rasierte. Mitte der 80er ließ man sich die Schamhaare noch wachsen, Punk zu sein, hieß voll natürlich zu sein. Bei ihr hatten sich leider Filzläuse eingenistet. Weil ich mal in einem Film gesehen hatte, wie einem Kind mit Läusen der Kopf rasiert wurde, kam ich auf die Idee, es bei ihr auch zu versuchen. Als ich das vorschlug, flippte sie aus und schrie: „Bist du wahnsinnig?“ Ich rasierte sie trotzdem, weil die Läuse eklig waren. Sie liebte Sex, was den Italienern natürlich wahnsinnig gefiel, aber weigerte sich danach zwei Wochen lang, zu vögeln, weil sie sich für ihren nackten Intimbereich schämte.

Für vieles, das Du auf dieser Reise erlebt hast, schämtest Du Dich nachher auch sehr, hast Du mal erzählt. Warst Du beim Zeichnen oft versucht, Dinge wegzulassen?

Sobald ich die Erfahrungen in Zeichnungen übersetzte und reflektierte, verloren sie ihre Peinlichkeit. Wenn ich Bücher lese, gefallen mir die am besten, die ehrlich sind. Es geht ja nicht darum, dass ich sympathisch rüberkomme, sondern darum, dass man versteht, wie Menschen funktionieren. Ich bin ein Beispiel für die Conditio humana. 

„Du bist die Heldin, die loszieht, um den Drachen zu besiegen.“

In Italien wohntest Du eine Zeit lang in der Villa eines Mafia-Paten, warst in Kreisen unterwegs, in denen harte Drogen konsumiert wurden. Wieso hast Du Dich in Gefahr gebracht?

Was manchmal nicht verstanden wird, ist, dass ich in dem Buch nicht erzähle, was mir Schreckliches widerfuhr. Es ist die Geschichte zweier Mädchen, die ihre Grenzen ausloten wollen. Wir waren nicht naiv und dachten: „Hoffentlich geht alles gut!“, sondern wir wollten so richtig auf die Kacke hauen. Wenn man nach Abenteuern sucht, geht man nicht zu Mami nach Hause, wenn es mal gefährlich wird. Du bist die Heldin, die loszieht, um den Drachen zu besiegen. Es war fast wie ein Initiationsritual. 

Sollten wir alle mehr Scheiße bauen?

Das kann ich natürlich nicht empfehlen (lacht). Ich habe ja einen Sohn und war als Mutter sehr erleichtert, dass er anders verrückt ist als ich – nicht auf so eine gefährliche Weise. 

Haben Deine Eltern das Buch gelesen?

Ich vermute schon, aber wir haben nicht groß darüber geredet. Meine Mutter hat nur geächzt (lacht).

„Sorry, dass ich pornografische Fantasien habe.“

In Deinen dokumentarischen Comics zeigst Du Sex, Penisse, Nacktheit. Pornografische Szenen hast Du das erste Mal mit 22 Jahren als Kompensation dafür gezeichnet, dass Dein Freund Dich nicht sonderlich befriedigte. Ist Zeichnen ein Lusterlebnis?

Es erlaubt mir jedenfalls, meine Fantasien zu verbildlichen. Wenn ich als junge Frau Wallungen hatte, zeichnete ich sie auf, einmal zum Beispiel ausschließlich Penisse. Danach war mir das so peinlich, dass ich die Bilder zerknüllte und sogar aus dem Papierkorb entfernte, um sie zu verbrennen. Für Frauen ist es anscheinend nicht leicht, zu ihren sexuellen Fantasien zu stehen. 

Welche Reaktionen gab es auf die Sexszenen in Deinen Comics?

Manche Rezensenten fragen sich, wieso ich Sex in meinen Comics so explizit zeige – ich denke mir dann: „Sorry, aber wenn ich pornografische Fantasien habe, kann ich das nicht ändern.“ (lacht) Ich verstehe nicht, wieso die meisten mit Gewaltszenen kein Problem haben, aber empfindlich reagieren, sobald ein bisschen Erotik vorkommt. Diese Prüderie liegt wohl daran, dass unsere Kultur immer noch sex- und körperfeindlich ist. 

Ganz andere Szenen hast Du jedenfalls mit Anfang dreißig festgehalten, als Du nach Berlin zogst, um dort Illustration zu studieren. Dort warst Du in Deiner Wohngegend Prenzlauer Berg stundenlang in Parks und auf Spielplätzen, um Jungfamilien zu zeichnen. Klingt zunächst mal nicht so spannend?

Ich fand es super, dass hier so viele Kinder rumliefen, da gab es genügend originelle Szenen festzuhalten. Ich lachte auch immer über die Eltern, weil das so halbliberale Menschen sind, die schnell an ihre Grenzen stoßen. Früher bevölkerten sie die Clubs und gründeten dann alle gleichzeitig Familien, klar ist das nicht sexy. Aber deshalb das langweilige Bio-Biedertum heraufzubeschwören, finde ich nicht richtig. Kinder brauchen ein bisschen Stabilität (lacht). 

Vielen Dank für das Interview!


Dieser Beitrag ist – redaktionell unabhängig – mit freundlicher Unterstützung von Vöslauer Mineralwasser entstanden und erscheint auch im #Jungbleiben. Das Vöslauer Magazin.
 

Ulli Lust (*1967 in Wien) zählt zu den wichtigsten Comiczeichnerinnen im deutschsprachigen Raum. Zwischen 1999 und 2004 studierte sie an der Weißensee Kunsthochschule Berlin, heute unterrichtet sie selbst Comic und Zeichnung an der Hochschule Hannover. Ihr autobiographischer Comic-Roman Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens erschien 2009 und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Independent Comic Preis 2010. 2013 erschien ihr Buch Flughunde im Suhrkamp Verlag, eine Comic-Adaption des gleichnamigen Romans von Marcel Beyer, 2017 ihr ebenfalls autobiografischer Comic-Roman Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein. (dp, am)

Maša Stanić (*1994) ist eine serbisch-österreichische Fotografin und Künstlerin. Sie studiert Angewandte Fotografie und Zeitbasierte Medien an der Universität für angewandte Kunst Wien. Seit 2018 wurden ihre Arbeiten, Filme und Foto, in mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen u.a. in Wien, Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin gezeigt. Sie lebt und arbeitet in Wien.

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Performance still from A&E, Picnic in the Garden of Eden, 2021, with Lilith Stangenberg

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Stefanie Reinsberger © Hilde van Mas (Im Auftrag von C/O Vienna Magazine)

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