Missing Link war legendär und dachte Architektur neu. Der von Angela Hareiter, Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz in den 70er-Jahren gegründete Architektinnen-Gruppe ist derzeit eine Ausstellung im Wiener MAK (bis 2. Oktober) gewidmet. Wir sprachen mit Otto Kapfinger über die Suche nach dem, was zwischen Mensch, Architektur, Urbanität und Kunst ist – mehr als wir noch wissen.
„Wir wollten weg von der Architektur.“
Eva Holzinger: Als Sie zu dritt Anfang der 70er-Jahre als Missing Link begannen, gab es bereits die Wilden an der Technischen Hochschule in Wien: ZÜND-UP, COOP HIMMELB(L)AU und Haus-Rucker-Co. Der Begriff „Missing Link“ kommt aus der Evolutionstheorie. Man meint damit eine Übergangsform zwischen Vor- und Nachfahrinnen. Wo war die Lücke für Sie?
Otto Kapfinger: Diese Architektur-Gruppen waren erfolgreiche Eisbrecher, die das tradierte Berufsbild des Architekten (vom Planen und Bauen) erschüttert und das Spektrum vom Hightech-Environment bis zum Anarcho-Aktionismus erweitert haben. Wir waren damals die Jüngsten in der Szene und wollten uns von dem technoiden Stil unserer Vorgänger unterscheiden. Wir wollten zwischen den radikalen Extremen neue, übersehene oder inaktive Brücken finden ...
... Sie waren gegen Pragmatismus und zweifelten an Konventionen. Sie glaubten an die Utopie einer rabiaten Veränderbarkeit der Gesellschaft ...
... ja, wir wollten kritische Beziehungen zwischen Lebensform und Gebautem aufspüren und aufzeigen. Architektur beginnt lange vor dem Planen und Bauen – und reicht auch weit darüber hinaus. Wichtig war für uns das Ausloten von Grenzräumen „vor” oder „unter” dem, was normalerweise als Architektur definiert wurde. Avantgardismus funktioniert „von oben”, wir wollten eher von allen möglichen Rändern her arbeiten. Wir wollten weg von der Architektur und der technoiden Zauberwelt hin zu Literatur, Film und so weiter.
„Die Verweigerung des üblichen Berufsweges ...“
Von 1970 bis 1980 haben Sie sich in der avantgardistischen Kunst- und Architekturszene international einen Namen gemacht. Wann und wo haben Sie sich kennengelernt?
An der Technischen Hochschule in Wien, an der ich 1967 mit 18 Jahren begonnen habe, zu studieren. Adolf war Student und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Zeichnen und Malen, ich bekam dort 1969 eine Stelle. Angela war ein paar Jahre älter als wir und bereits in der Avantgarde-Szene unterwegs, ihre Eltern waren erfolgreiche Filmarchitekten. Ich habe Angelas spezifische Sensitivität des Wahrnehmens, Zeichnens, Diskutierens und Gestaltens bewundert. Adolf war enorm gut im Entwerfen und ein sehr politischer Mensch, 1969 wollte er mit Bernhard Frankfurter und anderen sogar eine neue Partei namens „Aktion” gründen. Unsere wichtigste Gemeinsamkeit war wohl die Verweigerung des üblichen Berufsweges. Die ersten Semester an der Technischen Hochschule waren für uns desillusionierend. Wir wollten andere, eigene Wege gehen!
Erzählen Sie uns davon!
Ein gemeinsames Projekt war eine Ausschreibung, bei der man eine Studentenmensa am Karlsplatz entwerfen sollte. Wir dachten uns: Es gibt genug Lokale und Beisln vor Ort, wichtig wäre nur, sie zu vernetzen. Am Karlsplatz selbst fanden wir eine städtische Bühne, eine Art Stadt-Zirkus, wichtiger. Wir waren damals von englischen Vorbildern geprägt, vor allem von dem britischen Architekten Cedric Price, der industrielle Gerüststrukturen und Container benutzte, um daraus lebenspralle, variable Stadträume zu schaffen. Keine Hochkultur, sondern Aktionsplätze mitten in der Stadt.
„Was ist ein Sessel? Was ist ein Tisch?”
Wie können wir uns Ihre Zusammenarbeit bildlich vorstellen?
Ich hatte einen Zeichentisch in einem winzigen Dachkammerl ohne Tageslicht hinter dem Aktzeichensaal, in dem wir gearbeitet und geraucht haben. Später hatten wir eine kleine Wohnung in Meidling, in der wir uns immer wieder getroffen haben. Wir waren keine besonders elektrische Gruppe, in der vor lauter Reibung oder Ekstase ständig die Funken sprühten. Stattdessen gab es bei uns viel Asche unterm Arbeitstisch. Grundsätzlich hat jeder sein eigenes Ding gemacht, alle unsere Zeichnungen waren sehr intuitive Arbeiten.
Wie haben Sie versucht, diese Vision in Ihrer Arbeit praktisch umzusetzen?
Wir haben uns in einem ersten Schritt mit Lektüre angenähert. Mit Marcuse, Habermas und Co wollten wir Realitätsknoten erkennen und bearbeiten. Jemand hat einmal gesagt: „Architektur ist Ordnung.“ Diese Ordnung zergliedert sich dann in Funktionen: Wohnen, Schlafen, Essen, Spielen, Arbeiten. Wir ArchitektInnen planen für diese Funktionen. Aber was sind sie eigentlich genau und wer übt sie aus? Was oder wer ist der Mensch? Was ist ein Sessel? Was ist ein Tisch? Was passiert, wenn wir miteinander reden? Wir haben Alltagsobjekte genau angesehen, sie in Frage gestellt. So entstand das Werk „Treffen auf dem Feld (Aktionen bei Trausdorf, Sommer 1972)“.
„Eine Stadt muss man lesen lernen.“
Wie haben Sie die Dinge untersucht?
Mit einfachsten Geräten und Requisiten haben wir die Regeln menschlichen Verhaltens untersucht, die Verteilung der Rollen, die Zuteilung von Gegenständen und Räumen zu bestimmten Tätigkeiten. Wir wollten zu einer nicht-normativen Gestaltung der Wirklichkeit gelangen. Dafür muss man menschliches Verhalten und Kommunikation in ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen Schichten der Gesellschaft erkennen lernen und genau dort mit Kritik ansetzen. Das ist nur möglich, wenn wir Funktionen und Ordnungen nicht als wertfrei und natürlich, sondern als Formen gesellschaftlichen Drucks begreifen.
Sie haben auch einen genaueren Blick auf die Stadt Wien und ihre Straßen geworfen?
Im Sommer 1973 beauftragte uns der herrlich unkonventionelle Alfred Schmeller, der damals Direktor des 20er-Hauses war, deinen Wiener Beitrag zur internationalen Wanderausstellung „Die Straße” zu konzipieren, die damals hier Station machte. Wir haben uns gefragt: Was ist eine typische Wiener Straße, wo passiert das Wiener Leben?
Und wo war es, das Wiener Leben?
Am Gürtel, zum Beispiel rund um die Stadtbahnstation Gumpendorfer Straße! Wir haben genau hingeschaut: Was ist an so einem Stadtknoten los? Der Gürtel wurde lange als Nervenmühle mit einem Schuss Kriminalität abgetan, aber es gibt dort eine Vielfalt an Möglichkeiten der Nutzung, des räumlichen Erlebnisses, der Wege und der Kommunikation. Eine Stadt muss man lesen lernen. Mir hat das Werk der US-amerikanischen Architekturkritikerin Jane Jacobs dabei geholfen, die sich viel mit der Stadt New York beschäftigt und sie nicht von oben, sondern auf Augenhöhe analysiert hat. Sie beschrieb das tägliche Geschehen als „Ballett der Straße", an dem jede Bürgerin teilnimmt.
„Wir wollten hin zu Literatur und Film.“
Hat sich dieses Ballett im Laufe der Jahre verändert?
... und fast schon fetischhaft entfremden ...
Genau. Die Umgestaltung der Straßenbahnwaggons ist ein weiteres gutes Beispiel für dieses Verlernen. Früher gab es vorne und hinten offene Plattformen, auf denen man stehen konnte. In den einzelnen Waggons gab es durch abwechslungsreiche Anordnungen der Sitzplätze verschiedene mögliche Konstellationen der räumlichen Interaktion. Dann kam der Waggon, in dem alle brav und einheitlich wie im Autobus hintereinander sitzen. Das ist ein riesiger Verlust, weil er die Wahrscheinlichkeit für spontane Interaktionen minimiert.
„Warum sollten wir nur auf Digitales setzen?”
Apropos Handys. Beschäftigen Sie sich mit den Auswirkungen dieser Technologien auf Architektur?
Architektur ist immer analog. Eine Wand ist analog, eine Öffnung in der Wand ist analog, eine Tür ist analog. Kommt mir die Tür entgegen oder nicht? Ist sie schmal oder breit, hoch oder nieder? All das ist ein Raumerlebnis, ist vierdimensional in der Zeit. Wir sind sinnliche Wesen, warum sollten wir nur auf Digitales setzen? Selbst ein Buch ist wie ein Gebäude, ein Raum. Man kann nach vorne blättern oder in der Geschichte zurückgehen. Lesen ist haptisch, ist Konvention, wenn wir von links nach rechts und von oben nach unten lesen. Lesen ist sogar akustisch, wenn wir das Blättern der Seiten hören.
Und die Architektur?
Auch sie ist zu einem Gutteil Akustik. Das Ohr ist unser Raumorgan; ich sehe nicht, wenn sich etwas oder jemand hinter mir befindet, aber ich kann es hören. Das Ohr ist auch das empfindlichste Organ; es ist jenes Organ, das der Körper beim Tod als letztes ausschaltet.
„Das Ohr ist unser Raumorgan.”
Sie haben im Rahmen der Wiener Studien gemeinsam mit dem bekannten österreichischen Architekten Adolf Krischanitz großformatige, systematische Zeichnungen angefertigt und damit architektonische Besonderheiten Wiens untersucht, wie zum Beispiel Kaffeehäuser. Was macht sie so besonders?
Sie haben eine sehr informelle Atmosphäre. Man befindet sich dort nicht im Joch des Professionalismus. Diejenigen, die regelmäßig wiederkommen, kennen sich, man kann gemeinsam Schmäh führen. Es gibt keinen fixen Rahmen, der das Setting definiert. Ein Kaffeehaus ist immer auch Potenzial. Oft gibt es einen Billardtisch oder so etwas Ähnliches, die Abschweifung ist vorhanden, es ist ein spielerisches Angebot, das man nützen kann, aber nicht muss. Das Spiel um die Zeitung ist auch altbekannt: Man kann sich darum streiten, man kann sich damit deklarieren oder auch verschanzen.
Retrospektiv betrachtet: Wo sehen Sie real gewordene Missing Links?
In den 1970er-Jahren gab es im Künstlerhaus eine Ausstellung namens „Vorsicht: Polstermöbel”. Robert Maria Stieg und Herbert Hammerschmied haben billige Polstermöbel von Ikea bis Leiner analysiert. Ihrer Meinung nach standen sie in keiner Relation zu den Gemeindebauwohnungen, in denen viele der KonsumentInnen wohnten, oft waren sie schlicht zu groß für diese Wohnverhältnisse und auch qualitativ völlig überteuert. In der Ausstellung wollten sie diese Unvereinbarkeit entlarven. Als Konsequenz haben sie gemeinsam mit Wiener Handwerkern dann mit der Serie „Feine Wiener Polster” einen Gegenentwurf geschaffen. So etwas ist ein typischer Missing Link, wenn er auch nicht von uns ist.
„Hilfe zur Selbsthilfe, das ist für mich Utopie.“
Sie haben sich auch mit dem Wohnen in der Zukunft beschäftigt. Wie sieht Ihre Utopie aus?
Früher hörten die Menschen einander mehr zu; da konnte eine Dagmar Koller dem Bürgermeister Zink die Wadeln nach vorne richten. Heute gibt es diesen Austausch nicht mehr, in der Regierung herrscht Zynismus und Angst. Das
größte Wunder, die wichtigste Aufgabe, ist für mich die Emanzipierung der Menschen. Wir müssen
gerade die Nicht-Priviligierten so weit bringen, dass sie wissen, wovon sie reden und was sie
fordern können. Hilfe zur Selbsthilfe, das ist für mich Utopie. Statt
einer neuen Bauweise brauchen wir eine neue Lebensweise.
„Die Architektur fängt im Wald beim einzelnen Baum an.“
Gibt es so etwas wie ein Material der Zukunft?
Es ist Zeit, dass wir uns von zentralistischen Lieferketten verabschieden und mit nachwachsenden Rohstoffen in einen Kreislauf kommen. Die Architektur fängt im Wald beim einzelnen Baum an. Im Holzbau gibt es tatsächlich eine große Entwicklung in Österreich. Früher waren die ausführenden Firmen oft Feindbilder der ArchitektInnen. Man kam mit einem Plan zu einem Baumeister, und der sagte dann bloß, dass sich das so nicht umsetzen lasse. Es war ein Kampf zwischen Vision und Ausführung. Dieses Schema dreht sich nun um: Die ProduzentInnen, in Österreich speziell die Holzhersteller und -verarbeiter, treiben die Innovation und die Technologien längst so gut voran, dass die ArchitektInnen fast nicht mehr hinterherkommen.
Welche Architektin bewundern sie, wer ist ein Missing Link oder hat das Potenzial, es noch zu werden?
Da fällt mir Anna Heringer ein. Sie würde ich als utopischen Menschen beschreiben. Sie ist eine deutsche Architektin, in Österreich ausgebildet, die als Vorreiterin des nachhaltigen Bauens gilt. In ihren weltweiten Projekten arbeitet sie immer mit lokalen HandwerkerInnen, auch mit „ungelernten“, minderbemittelten Leuten und einfachen, lokalen Baustoffen wie Lehm, Bambus, Holz. Ihre innovativen Konzepte bieten Hilfe zur Selbsthilfe.
Herzlichen Dank für das Gespräch!