Die Nase

Was riecht hier so schön?

Die berühmte norwegische Geruchsforscherin und Künstlerin Sissel Tolaas baut Geruchsduschen und synthetisiert den Duft von Geld. In ihrem Berliner „Archiv“ bunkert sie annähernd 10.000 olfaktorische Dokumente – unter anderem von Wien, Angstschweiß und Erbrochenem. Für die Expertin riecht nichts schlecht, gut jedoch auch nicht. 

Text: Antje Mayer-Salvi, Lisa Peres

„Nichts stinkt!“

Wie riecht Krieg? Sie haben für verschiedenste Ausstellungen den Geruch des Ersten Weltkrieges rekonstruiert. Es wird, so hört man, einigen Besucherinnen immer wieder schlecht davon. Beabsichtigen Sie solche Reaktionen?

Krieg riecht natürlich schrecklich. Die Reaktionen sind entsprechend und auch so gewollt. Dieser Krieg roch wahrscheinlich nach Senfgas, Leichen, Blut, bandagierten Wunden, nach Pferdekadavern und lehmigem Boden. Leider konnte ich niemanden mehr fragen, denn die Beteiligten sind ja inzwischen verstorben. Also habe ich alles mithilfe von Geschichtsbüchern, Zeitzeuginnenberichten und anderen schriftlichen Überlieferungen nachkonstruiert. Eine der Quellen ist von einem Militärchemiker verfasst, die war sehr hilfreich. 

Finden Sie gewisse Gerüche besonders „schön“?

Für mich sind alle Gerüche wie auch das Riechen wunderschön. Nach den Kriterien „gut“ und „schlecht“ beurteile ich Gerüche schon lange nicht mehr. Ich bin ihnen gegenüber viel toleranter geworden, auch in der verbalen Beurteilung. Abstrakte, leere und autoritäre Hierarchiebegriffe versuche ich gänzlich zu vermeiden. Nichts stinkt, wir denken nur, es stinkt. Wunderschön ist auch, dass Geruchserinnerungen ein Jahr lang zu hundert Prozent gespeichert bleiben, das visuelle Gedächtnis hingegen ist bereits nach drei Monaten nur noch zu dreißig Prozent abrufbar. Wir sollten deswegen viel mehr auf unseren Geruchssinn achten und ihn aktiver nutzen.

Für Ihr Projekt „Body SmellScape“ haben Sie den Schweiß von Menschen, die an Phobien und panischer Angst vor etwas leiden, aufgefangen, mit dem Sie dann, simpel ausgedrückt, unter anderem die Wandfarbe einer Galerie angereichert haben. Die Reaktionen der Besucherinnen waren dramatisch: Sie flüchteten oder wurden sogar aggressiv?!

Kann man den psychischen Zustand einer Person riechen? Die Antwort ist ja. Die Wandoberfläche wurde buchstäblich zur Haut – manche Besucherinnen und Besucher sind richtig ausgeflippt, aber auch das Gegenteil war der Fall. Menschen verbinden Gerüche immer mit persönlichen Erlebnissen, die in ihren Erinnerungen gespeichert sind. Gerüche sind nicht per se gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm, nur das Denken macht sie zu dazu.

Menschen, Ratten und Kakerlaken sind übrigens dahingehend die größten Generalisten auf dem Planeten Erde. Der Zweck ihrer Nasen ist es, Nahrung und Partner zu finden. Das sagt schon alles, oder?

„Kann man den psychischen Zustand einer Person riechen? Die Antwort ist ja.“

Sie haben Mathematik, Chemie, Linguistik und Kunst studiert. Seit 1990 beschäftigen Sie sich mit Gerüchen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst, betreiben in Berlin ein Labor und haben ein Duftarchiv mit annähernd 10.000 Aromen und bis zu 4.000 Duftmolekülen. Woher kommt Ihre Leidenschaft fürs Schnüffeln?

Bei Gerüchen geht es um Luft und Atmung, also um das Leben und am Leben zu sein.

Sehr früh fragte ich mich: Was passiert in der Luft? Was bedeutet „unsichtbar“? Was ist „Wetter“? Ich komme aus Skandinavien, vielleicht waren daher meine Sinne schon immer sehr aktiv. Ich habe sie immer sehr bewusst eingesetzt, um das Leben zu verstehen, und später zu meinem Beruf gemacht. 

Menschen sollen schätzungsweise über eine Billion verschiedene Mischungen von Riechstoffen unterscheiden können, sich dazu verbal aber nicht wirklich äußern können. Sie haben daher sogar eine „Nasensprache“ namens NASALO entwickelt. Diese verfügt über mehr als 2.500 Begriffe – wie „CLESH“ für sauberes Meer und „INO“, was für gereinigten Asphalt und gereinigte Steine steht.

Das ist ein Lexikon für die Nase. Im Gegensatz zu Farben wurden Gerüche immer zu intrinsisch und privat behandelt und konnten daher nicht in Sprache ausgedrückt werden. Sprache und Kommunikation waren und sind wesentlicher Bestandteil meiner Geruchsforschung. NASALO ist eine fiktive, internationale Sprache, die aus Wörtern besteht, um Gerüche und Geruchseindrücke zu kommunizieren. Sie besteht nur teilweise aus Wörtern gesprochener menschlicher Sprachen und hat ihre eigene Logik und Sprachregeln. 

„Die Welt ist ausreichend natürlich parfümiert.“

Wie fangen Sie Gerüche ein? Auf Videos sieht man Sie mit einer Art „Geruchs-Kamera“ – ein Glastrichter wird auf einen Schlauch aufgesetzt und die Duftmoleküle werden in eine Glashülle gesaugt.

Zuerst identifiziere ich die Geruchsquelle mit meiner eigenen Nase, dann entscheide ich, ob ich sie zur Analyse ins Labor bringe oder die Analyse vor Ort durchführe.

Ich benutze Geräte, mit denen ich Geruchsmoleküle, die von Geruchsquellen ausgehen, sammeln und sampeln kann. Mithilfe von chemischen Analysen zerlegen Laborchemiker die gesammelten Proben in einzelne identifizierbare Moleküle. Mit diesen Informationen kann ich den gleichen Geruch für verschiedene Zwecke beliebig oft chemisch reproduzieren.

Jede Geruchsprobe enthält eine Datenbank mit Geruchsmolekülen, die Teil des Archives mit verschiedenen Kernthemen wird, wie etwa „City SmellScape“; „Body SmellScape“; „Ocean SmellScape“. Zu diesen Hauptkategorien gibt es Unterkategorien wie „Toleranz“, „Umweltverschmutzung“ oder „Angst“.

„Entscheide Dich für das Riechen, und Dein Leben wird eine neue Dimension bekommen!“

Tragen Sie Parfüm?

Nein, ich trage kein Parfüm. Mein Körper ist voller olfaktorischer Spuren, die das „Sprechen“ übernehmen. Ich füge lediglich ein „funktionelles Geruchskonstrukt“ hinzu, wenn ich mich über das Wort hinaus ausdrücken möchte. 

Geht unser Geruchssinn zunehmend verloren?

Gerüche waren und sind die ganze über Zeit da. Mit jedem Atemzug inhalieren wir Geruchsmoleküle. Auch wenn wir schlafen, riechen wir. Riechen wird schon zu lange über die Werbung und kommerzielle Produkte kommuniziert. Das Marketing hat der Wissenschaft das Ruder abgenommen. Aber die Menschen kümmern sich wieder um ihren Geruchssinn! Trainierte uns geschulte Sinne erschließen so viel Potenzial, das einem besseren, fitteren und intelligenteren Selbst dienen kann.

Wie trainiere ich meine Nase?

Eine Biene findet eine Blume, ein Hund findet eine Wurst, ein Mensch findet einen anderen Menschen. Man muss nur die eigene Komfortzone verlassen, um seinen Geruchssinn kennenzulernen. Viele Probleme könnten gelöst werden, wenn man gegenüber Gerüchen toleranter wäre. Eines ist sicher: Wir alle sind mit einem Körper und dessen Sinnen ausgestattet. Und das kostenlos. Entscheide Dich für das Riechen, und Dein Leben wird eine neue Dimension bekommen!

Dieses Shooting ist in der Printausgabe 2/2021 „The Beauty Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.

Sissel Tolaas wurde 1963 in Norwegen geboren, studierte Mathematik, Chemie, Linguistik und Kunst. Seit 1990 baut sie Duftarchive in Berlin auf. Ihre Projekte wurden in Museen wie dem MoMA in New York, der Tate Gallery in London und der dOCUMENTA (13) gezeigt. Zu ihren Kunden zählen internationale Unternehmen wie Louis Vuitton, Adidas, Cartier, die UNO und Sony. Gemeinsam mit dem österreichischen Designer Tino Valentinitsch hat Sissel Tolaas das „Smell Memory Kit“, das aus einer Sammlung von 1.500 abstrakten Geruchsmolekülen mit persönlichen Geruchserinnerungen kombiniert und codiert werden kann. Das Kit ist im Concept Store „Supersense“ in Wien erhältlich.

Die Brain

Text: Maja Goertz

Tega Brain

Die in New York lebende Digitalkünstlerin und studierte Umweltingenieurin Tega Brain kreiert die lustigsten Dinge: einen Smell-Dating-Service, Anleitungen, wie man seine Fitnessdaten fälscht (Handy auf die Schaukel legen), und sie hat auch sonst geniale Ideen für den digitalen Alltag.