Die Obdachlosen

Alles, was wir (nicht) haben

Während viele im Überfluss leben, mehr besitzen als sie brauchen, müssen andere mit dem Nötigsten auskommen. Wir haben Nico, Erno, Jolt und Imi, vier Obdachlose in Wien, gefragt, was sie ihr Eigen nennen und was sie wie ihren Augapfel hüten. Eine Reportage.

Text: Leonore Schlee, Fotos: Simon Hundsbichler & Ivana Dzoic

„Mein Hund Ingwe ist mein wichtigster Besitz.“

Ein eisiger Wind weht, als ich zum ersten Mal auf Nico treffe. Täglich steht Nico, ein 43 Jahre alter, schmächtiger Mann, hinter einer breiten Säule des überdachten Eingangs der U-Bahn-Station Alser Straße. Sein Stammplatz bietet ihm etwas Schutz vor Wind und Wetter. Dass er friert, sieht man ihm trotz seiner tausenden Kleiderschichten dennoch an. Er wechselt bibbernd von einem Bein aufs andere. Neben ihm auf Decken gebettet liegt ein alter, schwarzer, struppiger Mischlingsrüde, sein treuer Begleiter, sein Hund Ingwe. 

Nicos Gesicht ist unter einer großen Kapuze versteckt. Er wirkt sehr in sich gekehrt, schwer zugänglich, es fällt mir schwer, mich zu überwinden, ihn anzusprechen. Als wir ins Gespräch kommen, wirkt er jedoch sehr freundlich, er spricht sehr leise, mit einem leichten ostdeutschen Akzent. Auf die Frage, ob ihm nicht kalt wäre, antwortet er: „Es gibt keine Kälte, nur falsche Bekleidung.“ 

Nico wuchs in Ostberlin zu Zeiten der DDR auf. Mehreren hundert Frauen und Männern wurden in der DDR die Kinder weggenommen, weil sie als Staatsfeinde galten, als arbeitsscheu, oder weil ihre Lebensweise dem SED-Regime nicht passte. Auf diesem Weg verlor er im Alter von sechs Jahren seine Eltern und lebt seither auf der Straße. Mit 20 Jahren wanderte er mit dem Fahrrad nach Wien aus. Auf die Frage, ob er sich nie nach einem eigenen Zuhause sehne, erklärt er, dass er nichts anderes gewohnt sei, er fühle sich draußen am wohlsten.

„Für Bücher“, meint er, „ist immer Platz in meinem Rucksack. Sie sind ein guter Zeitvertreib.“ Biografien und Erzählungen von wahren Begebenheiten findet Nico am spannendsten. Aktuell liest er „Frauen im Männerstaat Südafrika“ von Dorothea Razumovsky. Das Lesematerial beschafft er sich von Büchersammelstellen oder auf Flohmärkten.

„Ich sehne mich nach mehr Privatsphäre.“

Am nächsten Tag treffe ich auf einen Vater und dessen Sohn, beide sitzen nebeneinander auf einer der Bänke der 43er Bim-Station. Erno, ein rundlicher, 56 Jahre alter Mann mit grauem Haar und Rollator, und dessen Sohn Jolt, 32 Jahre, beide gebürtige Ungarn, leben seit sieben Jahren auf der Straße. Da nur der Sohn ein bisschen Deutsch kann, kommunizieren wir via Google Translate. Beide sind sehr herzlich und offen. 

Erno arbeitete als Krankenpfleger in einem Spital in seiner Heimat Budapest. Seine Frau, Jolts Mutter, starb früh an einer Herzerkrankung. Erno selbst erlitt einen Herzinfarkt und muss seitdem täglich Medikamente nehmen. Die lebenserhaltenden Tabletten kosten viel Geld. Wegen seines schlechten gesundheitlichen Zustands verlor er auch seine Arbeit. Damals reisten die beiden nach Österreich, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, Jolt in der Hoffnung auf Arbeit. Der Plan ging jedoch nicht auf. 

Die mangelnden Deutschkenntnisse sowie der gesundheitliche Zustand seines Vaters hinderten auch Jolt daran, einen Job auszuüben. Beide bekommen zumindest eine warme Mahlzeit und einen Schlafplatz in einer caritativen Einrichtung. „Die besten Tage sind die, an denen Gulasch serviert wird, das erinnert mich immer an meine Heimat“, erzählt Erno mit funkelnden Augen. „Hus mit Reis“, so nennt er das ungarische Gericht, war seine Leibspeise, die ihm seine Frau zubereitete, als sie noch lebte. Der größte Luxus wäre für Erno, sein eigenes Heim zu besitzen. Er sehnt sich nach Privatsphäre. Seine Krankheit belastet ihn, jeder Schritt bedeutet eine große Anstrengung.

Der junge Jolt träumt aktuell von einem Busticket nach Budapest, um seine Schwestern, Verwandten und Bekannten zu besuchen. Da 15 Euro viel Geld für einen Obdachlosen ist, kann er es sich nur selten leisten, seine Liebsten zu besuchen.

Auf die Frage, was denn Ernos wichtigster Besitz sei, kramt er eine weiße Tablettenbox aus seiner Tasche, die für jeden Wochentag unterteilt ist.  Er holt weitere Dinge aus seinem Rucksack: einen Esslöffel, ein Axe-Playboy-Deo, ein Ferrari-Parfum, Gas für Feuerzeuge. Erno legt großen Wert auf Körperpflege. Er brauche die Routine morgens, so sagt er, um einen geregelten Start in den Tag zu haben. 

„Nur weil ich auf der Straße lebe, heißt das nicht, dass ich keinen eigenen Geschmack habe.“

Ich finde Imi im Schneidersitz am Boden, die Menschen strömen mit ihren Einkaufstaschen vorbei. Wenn man Imi so auf der Straße sieht, mit all seinen Piercings, Tattoos, unzähligen Buttons auf seiner Weste und seinem Sex-Pistols-Hoodie, könnte man meinen, er wäre ein harter Kerl. Wenn man mit ihm ins Gespräch kommt, wird jedoch schnell klar, dass er ein sehr gelassener, freundlicher junger Mann ist.

Der gebürtige Ungar lebt seit seinem 14. Lebensjahr mit Unterbrechungen auf der Straße. Er erzählt, dass er als Teenager aus seinem Elternhaus flüchtete, da sein Vater alkoholabhängig und gewalttätig war. Zu seiner Mutter hatte er nie viel Kontakt, da sie den Großteil seiner Kindheit in der Psychiatrie verbrachte. Er schaffte es sogar schon einmal weg von der Straße, ergatterte einen Job im Supermarkt und eine Wohnung in Budapest, die er mit seiner damaligen Freundin bewohnte. Die Beziehung ging zu Bruch, als sie ihn mit seinem besten Freund betrog, all seine Wertsachen mit sich nahm und verschwand. Ablenkung vom Alltag, Drogen, Obdachlosigkeit, Gelegenheitsarbeit, der Kreislauf begann von vorne. Auf Grund der Pandemie ist Imi ohne Job und wieder ohne Dach über dem Kopf.

Für Imi ist Kunst, in seinem Fall seine Tattoo-Kunst, eine Art des Ausdrucks, der Verarbeitung, der Erinnerungen. „Viele meiner Tattoos habe ich selbst gestochen“, erzählt er. Sie sind sein ganzer Stolz. Das Interview wird von einer älteren, gebrechlichen Dame mit Rollator unterbrochen. Sie bringt Imi – wie jeden Tag – eine selbstgekochte warme Mahlzeit. Sie wohnt, so Imi, gegenüber von seinem Stammplatz und ist wie er alleine. „Das Mittagessen ist mein Highlight, die schönste Zeit des Tages“, strahlt er. Imi besitzt nicht viel, er trägt lediglich einen größeren Rucksack mit dem Nötigsten mit sich. Viele Passantinnen und Passanten hätten kein Verständnis, so Imi, wenn er zuweilen eine Sachspende ablehne. „Nur weil ich auf der Straße lebe, heißt das nicht, dass ich keinen eigenen Geschmack habe.“

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Kooperation mit der Meisterschule der Graphischen Wien. Dieser Artikel erscheint außerdem in der C/O Vienna Magazine Sonderausgabe THE CONSUMER ISSUEHier bestellen!