Angst und Ärger
Wie oft hast Du heute schon gelogen? Die Hamburgerin Gudrun Graichen ziemlich sicher kein einziges Mal, denn sie ist eine der Mitbegründerinnen des Radical Honesty Institute. Diese Bewegung, ins Leben gerufen vom US-amerikanischen Therapeuten Brad Blanton, verspricht ein glücklicheres Leben durch kompromisslose Wahrheit. Doch wie weit kann man damit gehen, kann kompromisslose Ehrlichkeit heilen oder vielmehr zerstören und verletzen? Das Artwork Apologizing Men der jungen österreichischen Künstlerinnen Julia Niemann und Leonie Seibold hält humorvoll Entschuldigungen von (weißen) Männern fest – mal mehr, mal weniger ernst gemeint.
„I am sorry!“
Kira Lichtblau, Marisa Neubert: Lügen Sie manchmal?
Gudrun Graichen: Ja, ich lüge auch manchmal. Radical Honesty bedeutet, sich verletzlich zu machen. Zu zeigen, was gerade in mir vorgeht, und wenn ich lüge, dann bin ich gerade nicht radikal ehrlich. Wir definieren „die Wahrheit sagen“ so, dass wir uns als eigene Whistleblower aufführen und uns hinter die Fassade schauen lassen.
Erklären Sie bitte kurz, was die „Radical Honesty“-Bewegung will?
Ursprünglich ist sie aus der Gestalttherapie abgeleitet, das heißt, sie hat einen therapeutischen Ansatz, bei dem es darum geht, mehr Aufmerksamkeit und mehr Gewahrsam für einen selbst zu entwickeln. Letztendlich kostet dieses Auseinanderfallen von dem, wie ich mich innerlich fühle, und dem, wie ich nach außen hin vorspiele, viel Energie. Brad Blanton hat damals in seiner Praxis analysiert, dass das die häufigste Ursache dafür sei, dass Leute mit psychischen oder auch körperlichen Symptomen in die Therapie gekommen seien.
Worin unterscheidet sich das von einer herkömmlichen Psychotherapie?
Wir sagen, dass wir es nicht als Therapie anbieten, sondern als Selbstentwicklungs- und Selbsterfahrungs-Workshops, aber es gibt viele Überschneidungen. Der Unterschied ist vielleicht, dass wir den Kontakt zu Fremden nutzen – zu den anderen, die in den Workshops sitzen.
„Es tut mir Leid!“
Was ist der Unterschied zwischen ehrlich sein und radikal ehrlich sein?
Das Wort „radikal“ ist ein catchy Brandname. Unser Gründer Brad wollte sein Buch anfangs „Tiefe Ehrlichkeit" oder so ähnlich nennen. Das kam nicht so gut an, „Radical Honesty" klingt ein bisschen verwegener. Das Wort „radikal“ kommt vom lateinischen Wort „radix“, was so viel wie Wurzel bedeutet. Das ist tatsächlich etwas, was uns wichtig ist. Wir wollen versuchen, mit Ehrlichkeit ein bisschen tiefer zu dem vorzudringen, was uns eigentlich treibt. Wir wollen an die tieferen Gefühle herankommen, die wir üblicherweise verbergen. Es ist eine heilsame Art, sich weiterzuentwickeln, im Kontakt mit anderen. Es tut – zumindest meistens – gut.
Nur meistens?
Ja, nur meistens. Manchmal geht es nach hinten los. Wir pflegen bei uns zu sagen: „Radical honesty works pretty good – most of the time.“
Haben Sie mit radikaler Ehrlichkeit schon mal Grenzen überschritten, die Sie lieber nicht hätten überschreiten wollen?
Auf jeden Fall. Ich denke da an eine Beziehung zu einem Mann. Wir kannten uns erst kurz. Ich war noch nicht so lange mit „Radical Honesty” vertraut, wollte aber unbedingt und um jeden Preis immer ehrlich mit ihm sein. Ich war es aber nicht wirklich, sondern habe ihn eher zur Ehrlichkeit gecoacht: Ich meinte beispielsweise zu wissen, dass er wegen mir verärgert ist. Ich forderte ihn daraufhin zur Ehrlichkeit auf: „Ja, nun sag doch endlich, dass Du sauer auf mich bist“, anstatt bei mir zu bleiben: „Ich ärgere mich gerade darüber, was Du sagst.“
"I want to apologize!"
Wie war es, das erste Mal in einem Workshop mit nur radikal Ehrlichen zu sitzen?
Ich telefonierte nach meinem ersten Training direkt mit meiner Familie: „Ich war bei einem Workshop, Ihr glaubt nicht, was da alles passiert ist. Da ging es um radikale Ehrlichkeit. Die Leute haben Sachen gesagt, die mich verblüfft haben. Zum Beispiel hat einer zu Brad Blanton gemeint, dass er einen dicken Bauch hätte. Das kann man doch nicht sagen! Der war aber total entspannt, hat nur ein bisschen gegrinst und einfach weiter zugehört.“ Ich war vom ersten Treffen an begeistert!
Wie hat der Gründer Brad Blanton das erste Mal auf Sie gewirkt?
Als ich ihn 2016 kennenlernte, war er recht in sich ruhend und hatte einen krassen Humor.
Was meinen Sie mit „krassem Humor“?
Also „krass“ im Sinne von direkter Sprache. Er nennt oft Beispiele, die sich auf Sex beziehen, leicht über die Grenze von dem hinaus, was man gewohnt ist. Ich find's lustig, er hat so eine Art von guter Akzeptanz allem gegenüber, im Sinne von „so sind wir Menschen halt“. Ich habe das Gefühl, ich kann ihm nichts erzählen, worüber er urteilen würde. Das Einzige, was ihn nervt, ist, wenn man Geschichten und Erwartungen zu sehr verkopft. Dann meint er öfter mal: „That's bullshit. Get back to your senses!"
Radikale Ehrlichkeit erzeugt Streit, Verletzungen und fügt anderen Menschen Kränkungen zu. Sie ist aggressiv. Was sagen Sie zu diesen Argumenten?
Da existiert auf jeden Fall eine Angst, meinen Ärger zu zeigen, weil ich denke, meine Ehrlichkeit könnte andere verletzen, weil sie mit ihr nicht umgehen können. Dieses Risiko gehen wir ein.
„Mir kamen die Tränen.“
Wenn man radikal ehrlich ist, misst man dann seiner eigenen Meinung nicht einen höheren Stellenwert als dem Wohlbefinden des Gegenübers bei?
Es geht uns nicht um Meinung, sondern um Wahrnehmung. Da kommt einfach ein Gedanke, und es heißt nicht, dass ich mich mit ihm identifiziere und meine, er stimmt. Ich bringe mal ein Beispiel, das ein bisschen extrem ist. Ich war im Urlaub und es wurde dort auch ein Workshop angeboten. Da war ein Teilnehmer, der sich um mich bemühte und mit mir flirtete. Ich fühlte mich durch sein Äußeres ein wenig abgestoßen. Er trug lange Haare, war ungepflegt und hatte unregelmäßige Zähne – so beurteilte ich ihn. Ich merke, wie mir das gerade unangenehm ist, Ihnen das gegenüber zu äußern. Ich möchte mich nicht als jemand outen, der solchen Äußerlichkeiten so eine große Bedeutung beimisst. Aber Fakt ist, das alles stieß mich ab und gleichzeitig schätzte ich das auch wert, wie er sich um mich bemühte.
Haben Sie ihm das gesagt?
Ich ging tatsächlich zu ihm hin und äußerte, dass mir das total unangenehm sei, aber ich ihm ehrlich gegenüber sein wolle. Ich würde nicht mögen, wie seine Haare und Zähne aussähen und ich würde mich von ihm abgestoßen fühlen. Mir kamen die Tränen. Ich gab ihm gegenüber zu, wie aufgeregt ich war, das so radikal ehrlich zu formulieren.
Wie war seine Reaktion?
Er sah mich an: „Wow, ich schätze Dich, ich mag Dich jetzt noch mehr, weil Du das gesagt hast.“ Die Reaktion wird vielleicht nicht immer so sein, aber in dem Fall war sie so. Das Witzige war, dass mich sein Aussehen, nachdem ich es ausgesprochen hatte, nicht mehr störte und ich es gar nicht mehr wahrnahm. Das abschreckende Gefühl war weg, als wenn ich einen Filter von mir weggenommen hätte. Wir hatten dann tatsächlich eine Zeit lang eine Affäre.
"Excuse me!"
Würden Sie lügen, wenn Ihnen eine Freundin ihr neugeborenes Baby, das verschrumpelt und zerknautscht ist, zeigt und fragt: „Ist es nicht süß“?
Ich habe ja selbst drei Kinder (lacht), da habe ich überhaupt keine Dissonanz, da finde ich es wahrscheinlich wirklich süß.
Wenn eine Person eine Meinung hat und Sie diese nicht teilen. Wie verhalten Sie sich?
Ich würde es davon abhängig machen, welche Art von Beziehung ich zu diesem Menschen haben möchte. Ist das, worüber ich ehrlich sein will, etwas, was mich einschränkt, wenn ich es nicht sage? Bei dem Beispiel mit dem Mann, den ich anfänglich abstoßend fand, wäre die Alternative gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen und nichts zu äußern. Wäre das nicht auch sehr verletzend gewesen?
Wenn Sie keine Lust auf ein Coaching haben, sagen Sie das dann der Klientin ehrlich?
Nein, das mache ich nicht. Wenn ich beim Erstgespräch allerdings merke, dass ich mich hilflos fühle, dann äußere ich, dass ich mich nicht als gute Coach für die Person sehe.
"Bitte verzeihe mir!"
In Ihrem Workshop werden heikle Geheimnisse verraten, diese könnten gegen andere verwendet werden. Wie gehen Sie damit um?
Am Anfang jedes Workshops treffen wir Vertraulichkeitsvereinbarungen. Wenn diese Abmachungen gebrochen werden, dann ist bei uns durchaus üblich, dass wir demjenigen gegenüber, dessen Geheimnis verraten wurde, auch zugeben: „Ich habe über Dich geredet!“.
Wir haben aus verschiedensten Quellen erfahren, dass Ihre Bewegung zuweilen als „Kult“ beschrieben wird. Was sagen Sie dazu?
Wir sagen das auch manchmal im Spaß. Unsere Art von Begeisterung wirkt zuweilen kultartig, die Freude darüber, wenn ich mich etwas traue und dann feststelle, dass die Folgen gar nicht so schrecklich sind, wie ich gedacht habe. Oder auch dieser missionarische Eifer, alle Leute davon überzeugen zu wollen, dass das, was mir gutgetan hat, auch anderen guttut.
Ist es vielleicht sogar eine Sekte?
Nein, nicht Kult, nicht Sekte, nicht in dem Sinne, dass es einen Guru gäbe oder wir versuchen würden, Menschen zu manipulieren. Ich denke, die Assoziation mit Kult ist immer irgendwie Machtmissbrauch. Ich möchte nicht behaupten, dass wir frei von Machtmissbrauch seien. Ich glaube, ein Machtgefälle entsteht automatisch zwischen Trainerinnen und Teilnehmerinnen. Wir weisen in Workshops explizit darauf hin und bitten Teilnehmerinnen, uns zu sagen, wenn sie glauben, wir missbrauchen diese Macht.
Danke für das ehrliche Gespräch, bitte eine letzte ehrliche Antwort! Wie fanden Sie unser Interview?
Ich frage mich, ob Sie beide eine richtige Vorstellung von dem bekommen haben, was „Radical Honesty“ ist. Ich merke an mir, dass ich so ein bisschen eine Unsicherheit habe, ob ich das richtig vermitteln konnte und das Wichtigste rübergekommen ist.