Ins Wunderland
Selbst beschreibt sie sich als neurotische Pippi Langstrumpf, andere sehen in ihr eine der aktuell vielversprechendsten Nachwuchs-Sängerinnen im deutschsprachigen Raum. Schon mit neun Jahren versuchte sich Rahel Kislinger als Straßenmusikerin, vor ein paar Wochen veröffentlichte sie ihr Debütalbum Miniano, für den Amadeus Award war sie schon zweimal nominiert, gerade ist sie auf Tour. Wir haben sie 165 Meter über Wien auf dem Donauturm getroffen und sind mit ihr ins Wunderland gerutscht.
„Musik braucht Raum!“
Elisa Promitzer: Liebst Du das Rutschen?
Rahel Kislinger: Als Kind spielte ich in der Natur, im Wald und war kreativ: Im Kindergarten versuchte ich mich als Regisseurin, schlich mich heimlich mit der gesamten Kindergartengruppe auf die Wiese und „drehte" dort einen Film. Das sorgte natürlich für richtig Ärger, und wir wurden überall gesucht. Spielplätze und Rutschen waren für mich als Kind eher uninteressant.
Welche Musik hast Du auf dem Weg zu unserem Interview gehört?
Gar keine. Gestern hatte ich Tracy Chapman in den Kopfhörern. Diese Musik bedeutet Kindheit für mich.
Was fasziniert Dich daran?
Es ist eine sehr direkte Musik, schnörkellos und politisch. Nicht nur ihre Musik ist spannend, sondern auch Chapman als Person. Ich wuchs im Waldviertel in einer alternativen WG mit mehreren Familien auf einem Hof auf. Ich trug kleine Lämmer umher, war von Pferden, Katzen und Hunden umgeben. Im Sommer schallte Hippiemusik aus den Boxen, auch Tracy Chapman, am Sonntag oft Beethoven, irre laut, sodass es das ganze Dorf hörte. Ich lernte damals, dass man Musik den Raum geben muss, nach dem sie ruft.
„Neurotische Pippi Langstrumpf!“
Das klingt nach dem Leben auf einem Outdoor-Konzert!
Mein erstes richtiges Konzert erlebte ich im Alter von acht Jahren auf den Schultern meines Papas. Ich wippte über den Köpfen der anderen zu den Melodien von Christina Stürmer.
Auf Instagram heißt Du Radikal RAHEL – wie radikal bist Du?
Manchmal radikal und auch unradikal. Manchmal fühle ich mich unter anderem wie eine neurotische Pippi Langstrumpf.
Die roten Haare passen schon mal …
… und vielleicht auch ein bissl mein Sinn für Gerechtigkeit. Ich kann sehr unangepasst sein, Hierarchien nerven mich und manchmal habe ich ein Problem mit Autoritäten.
„Einfach alles rausbrüllen!“
War es Liebe auf den ersten Blick – Du und die Musik?
Das ist die große Frage: Ich sammelte jedenfalls ein paar coole Bühnenerfahrungen von klein auf. Mit sieben Jahren stand ich bereits das erste Mal auf der Bühne als Julia in „Romeo und Julia“, später auf der größten Bühne überhaupt, nämlich als Straßenmusikerin mitten vorm Stephansdom. Sobald man in der Schule Performances oder Sketches aufführen durfte, fand man mich in der ersten Reihe. Ich liebte es – die Bühne, den Applaus, einfach alles.
Den Song „Nicht mal Nihilist“ hast Du diesen Jänner released. Du nennst ihn liebevoll einen Song über die Abgründigkeit, den Dreck und den Grant!
Ich glaube, dass das wichtige und schöne Emotionen sind, die viel freisetzen können und leider oft FLINTA*-Personen abtrainiert werden. Bei meinen Konzerten lade ich das Publikum immer bewusst dazu ein, einfach alles rauszubrüllen und sich dabei zu fühlen.
Wann warst Du das letzte Mal grantig?
Manchmal löst Wien oder eine Stadt dieses Gefühl in mir aus. Ich bin ein sozialer Mensch und interagiere gerne mit Leuten. Aber wenn meine Reserven leer sind, können mich Geräusche extrem grantig machen. Manchmal wünschte ich, dass die Stadt einfach kurz ihre Fresse halten könnte (lacht).
Deine Schwester, eine Maskenbildnerin, brachte Dich zum Theater. Danach hast Du bei Elfriede Ott Schauspiel studiert. Warum hast Du Dich dennoch für die Musik entschieden?
Ich fühle mich sehr frei in der Musik, weil ich vieles selbst entscheiden kann, was im Theater in dem Ausmaß selten möglich ist. Dort bekommt man Anweisungen von der Regie, man setzt die Kreativität um, aber kreiert sie nicht. Ich hatte einen Knoten im Kopf. Heute stehe ich auf der Bühne, frei in meiner Musik, und niemand sagt mir, wo ich zu stehen habe.
„Ich fühle mich frei!“
Gab es einen ausschlaggebenden Moment?
Eine Taxifahrt hat mich nicht nur physisch an einen anderen Ort gebracht: Ein junger Taxifahrer brachte mich auf die Idee, dass ich eine produzierende Person und nicht zwingend eine Band brauche. Daraufhin wurde mir mein heutiger Produzent Raphael Krenn empfohlen. Bereits nach dem ersten Treffen schrieben wir gemeinsam einen Song – am selben Nachmittag noch! Heute, ein paar Jährchen später, haben wir unsere Zusammenarbeit ausgebaut. Meine Band hat sich erst schleichend zu etwas Konstantem entwickelt. Wir sitzen oft bei ihm im Wohnzimmer und tüfteln an meinen Songs. Er kreiert die Tracks, die wir dann mit meinen Ideen, Texten und Melodien vereinen. Dann startet die gemeinsame Überarbeitungsphase und Feedbackrunde.
Bei Sonnenlicht oder in der Dunkelheit?
Ich schreibe am liebsten in der Nacht. Die Dunkelheit vermittelt eine besondere Stimmung und erlaubt einen anderen Blick auf die Welt. So ähnlich formuliert es auch der Philosoph Nietzsche – glaube ich.
Die Themen Deiner Songtexte sind sehr vielschichtig: feministisch, politisch radikal, ein Mix aus Poesie und Appellen. Was ist Dir bei Deinen Texten am wichtigsten?
Ich möchte eine Brücke zwischen Bedeutung und Ausdruck bauen. Ich bin hoffnungslos sprachverliebt und möchte, dass Worte cool klingen. Das muss wiederum mit dem Inhalt harmonieren. Ich lasse mich selbst gerne von meinen Liedern überraschen.
„Hoffnungslos sprachverliebt!“
Ein schmaler Grat in der deutschen Sprache, nicht in Kitsch oder Schlager-Rhythmen abzurutschen …
… diese Sorge hatte ich zu Beginn auch, aber heute ist es ein sehr organischer Prozess. Und kitschig zu sein, fällt mir nicht nur nicht schwer, sondern ist ein erwünschtes Stilmittel.
Deine Debüt-EP heißt „Die allerschönste Angst“. Inwiefern kann Angst schön sein?
Schönheit und Angst gehen oft ineinander über. Angst kann schön sein, wenn man sich ihr stellt und versucht, sie zu überwinden. Dahinter findet man oft die Schönheit.
Was ist aktuell Deine allerschönste Angst?
Momentan gibt es keine übergroße Angst in meinem Leben. Ich versuche eigentlich immer auszutesten, was passiert, wenn ich meine Komfortzone ein bisschen ausdehne. Vor Kurzem spielte ich als Vorband bei der deutschen Musikerin Dilla und durfte einen Song mit ihr performen. Das war ein typischer „Ins-kalte-Wasser-werfen-Moment“. Ich probiere auch aus, mit vielen unterschiedlichen Leuten Songs zu schreiben und bin einfach urgern unterwegs. Je öfter man aus der Komfortzone tritt, desto weniger Angst hat man. Im Moment überwiegt die Schönheit.
„Ein typischer Ins-kalte-Wasser-werfen-Moment“
In einem Social-Media-Post schreibst Du: „Vor einigen Jahren hätte ich mich nicht getraut, Fotos von mir im Profil zu posten, weil ich in meiner Jugend viel gemobbt wurde. Heute denke ich sehr anders, bin tatsächlich stolz und bemitleide jene armen Bsuffs vom Frequency und von all den anderen Dorf-Sauffesten. Fühlt sich hier gerade ein wenig nach Seelen-Striptease an, aber ist mir wichtig: an alle, die ähnliches durchmachen.“ Was würdest Du Teenagerinnen heute raten?
Ich beneide niemanden, der im „Social-Media-Dschungel des Ewig-Verglichen-Werdens" aufwächst. 16-Jährige werben für Antifaltencreme und freuen sich über die Nasenoperation zum Geburtstag. Ich habe Mobbing erfahren in Bezug auf mein Aussehen. Es ging meistens von Männern aus, was mich zu der Feministin, die ich heute bin, machte. Ich habe das Gefühl, dass ich eine Rechnung mit den Männern offen habe.
Was half gegen die Ohmacht?
Mir hat der Umgang mit Menschen geholfen, die stark bleiben und denen das Äußere egal ist. Die Kategorie „hässlich“ existiert für mich gar nicht. Auch wenn ich das Buch „Hässlichkeit“ von der Autorin Moshtari Hilal sehr inspirierend finde, da sie verständlich und poetisch die Konstrukte Schönheit und Hässlichkeit in historischen und persönlichen Kontext setzt. Wenn ich auf der Bühne stehe, ist es mir egal, wie ich aussehe, da geht es darum, ein Gefühl zu vermitteln.
Du liest gerne, habe ich gehört. Finden sich auch Referenzen auf Literatur in Deinen Liedern?
Ich lese viel Lyrik, und davon lasse ich mich gerne inspirieren. So auch bei meinem Song „Polly Hütchen“, dessen Titel auf dem Kinderbuchklassiker „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner basiert. Die Figur Pony Hütchen ist dort mit einer Detektivbande unterwegs und das einzige Mädel. Daraus wurde Polly Hütchen. Die kreative Freiheit, solche Dinge zu erfinden, genieße ich sehr.
„Kitsch ist erwünscht!“
In diesem Song träumst Du Dich an einen Ort in weiter Ferne. Wie sieht diese Welt aus?
Eine, die sich der Gräue der Welt entgegenstellt. Es ist schwierig, diese Welt zu beschreiben, sie wächst mit und in meinen Liedern und meiner Musik. Das Leben ist oft sehr banal und einengend. Möge es in dieser fernen Welt viel Raum für Eskapismus geben!
Erinnerst Du Dich am Tag an Deine Träume der Nacht?
Ich habe Respekt davor und versuche, mich nicht zu viel damit zu befassen. Was ich kann, ist, mich in einen Zwischenzustand zwischen Wachsein und Schlafen zu versetzen. Das ist ziemlich selten. Ich bin wach, meine Augen sind geschlossen und Bilder über Bilder enstehen vor meinem inneren Auge. Alles ist sehr abstrakt! Das sind Momente, wo mir das Ausmaß meiner Fantasie wortwörtlich vor Augen geführt wird.
„Viel Raum für Eskapismus!“
In Deinen Musikvideos finden sich viele Retro-Momente: alte Fernseher, Bowlingbahnen oder Telefonzellen. In welcher Zeit würdest Du am liebsten einen Tag verbringen?
In würde in keiner anderen Zeit als heute leben wollen, aber ein Tag wäre schon flashig. Ich wäre gern dabei gewesen, als Patti Smith jung war und mit Janis Joplin im Chelsea Hotel in New York wohnte. Es ging damals nur um Kreativität und Leidenschaft, nicht um virale TikTok-Hits.
Dein neues Lied „Grütze“ beschreibst Du als „ein Lied, dessen Seele mich an eine gut gewürzte Suppe oder an einen Punsch erinnert, welches live irrsinnig viel Spaß macht und denen, die darauf Lust haben, die Möglichkeit gibt, Altballast aus sich herauszuschütteln.“ Welchen Altballast versuchst Du loszuwerden?
Für mich ist es ein sehr dichtes Lied mit vielen Soundwänden, wütend und verletzlich zugleich. Einerseits wirkt es wie ein witziger Song, der sich über einen Mann, der nicht putzen will, lustig macht. Aber gleichzeitig geht es um eine gescheiterte Beziehung, von der man sich zu befreien schafft.
„Zwischen Wachsein und Schlafen!“
Was ist Deine Lieblingssuppe?
Als ich noch Fleisch aß, war Hühnersuppe echt nice. Heute Gemüsesuppe mit Nudeln oder Frittaten.
Dein Debütalbum „Miniano" kam am 8. März raus! Die Tour startet am 10. April in Graz. Worauf kann man sich freuen?
Die unveröffentlichten Songs auf meinem Album zeigen eine leisere Seite von mir, eine abstraktere. Ich denke, ich bin mit meinen Texten bei mir angekommen. Bei der Tour haben wir viele coole Gäste. Das ist eine Einladung an alle zu meinen Konzerten zu kommen!
Warum der Titel „Miniano“?
Ich wollte einen Titel wie eine Leinwand, frei für Interpretationsspielraum. Miniano ist für mich ein fantastischer Ort, an den man kommt, wenn man es geschafft hat, gesellschaftliche Zwänge hinter sich zu lassen. Ein Raum im Kopf. Einer, der wenig Anbindung zu Realität hat, der einem nicht im Weg steht. Gleichzeitig steht Miniano für Miniatur, weil ich in meinen Songs oft mit kleinen, fantasievollen Bildern arbeite.
„Wütend und verletzlich zugleich!“
Welcher Deiner eigenen Songs stimmt Dich am emotionalsten?
„Wo gehst Du hin später“ und „Das kleine Kasterl“. Es geht um Trostlosigkeit, Hoffnung und Tod.
Und am glücklichsten?
„Wasserfall – 10 Mal am Tag“. Das ist so ein Teenie-Garagen-Song, der einfach Spaß macht. Es ist ein sehr queeres Lied, das von einem Girlcrush handelt. Ich singe ein bisschen Wienerisch und fühle mich einfach frech.
Danke und guten Rutsch!