Christine Scholten ist Internistin und Kardiologin und betrieb bis vor Kurzem eine Ordination in Wien-Favoriten. Gemeinsam mit Renate Schnee hat sie das vielfach ausgezeichnete Sozialprojekt Nachbarinnen in Wien initiiert. Migrantinnenfamilien werden von Frauen mit ähnlichem kulturellen Hintergrund, die als Sozialassistentinnen ausgebildet wurden, bei ihrer Integration begleitet. Die Mutter dreier Töchter und Ehefrau des Ex-Politikers Rudolf Scholten ist überzeugt, dass Nutella besser schmeckt, wenn man es teilt. Ein entspanntes Gespräch über das Leben.
„Genauso gerne, wie ich meine Arbeit gemacht habe, mache ich sie nun gerne nicht.“
„Wir lernen jetzt.“ Gemeinsam mit Ehemann Rudolf Scholten beschäftigt sie sich nun mit Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie.
Maria Schoiswohl: Sie haben vor einem Jahr zu arbeiten aufgehört. Warum?
Christine Scholten: Die letzten zwölf Jahre habe ich eine Ordination in Favoriten betrieben – und die hätte ich noch lange weiterbetreiben können. Ich hatte auch immer das Gefühl, mir macht meine Arbeit so wahnsinnigen Spaß, ich werde nie aufhören! Aber mein Mann hat schon länger ans Aufhören gedacht, und so haben wir uns überlegt, dass wir das unglaubliche Privileg, das wir haben, wahrnehmen werden. Nämlich, dass wir genug an materiellen Werten geschaffen haben – und nicht mehr schaffen müssen.
Sie haben von einem Tag auf den anderen aufgehört?
Fast. Vor zweieinhalb Jahren sind wir an einem Strand gesessen und haben gemeinsam Rilke gelesen. Da habe ich gesagt: „So, Schluss!“ Ein Jahr später habe ich aufgehört.
Fehlt Ihnen die Arbeit?
Man verzichtet natürlich auf die durch die Arbeit entstehende Anerkennung. Das ist ein großer Punkt, und täte ich es allein, wäre das nicht so leicht für mich. Aber zu zweit geht das sehr gut, und ich kann nur sagen: Genauso gerne, wie ich meine Arbeit gemacht habe, mache ich sie nun gerne nicht.
Wie kann man sich Ihren jetzigen Alltag vorstellen?
Mein Mann und ich beschäftigen uns mit Themen, die uns schon immer interessiert haben: Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie. Und wir schreiben in einer Schreibwerkstatt. Wir haben uns vier Lehrer organisiert, und in demselben Zeitausmaß, in dem wir früher erwerbstätig waren, lernen wir jetzt mit denen.
„Gute Nachbarschaft ist Hingehen, Schauen, sich in den anderen einfühlen.“
Seit 2012 betreiben Sie das Projekt NACHBARINNEN in Wien. Sozialassistentinnen mit Migrationshintergrund helfen Migrantinnenfamilien bei der Integration.
Seit 2012 betreiben Sie das Projekt NACHBARINNEN in Wien. Sozialassistentinnen mit Migrationshintergrund helfen Migrantinnenfamilien bei der Integration. Ist Nachbarschaft eher Frauensache?
Frauen sind offener, und vor allem sind sie das Zentrum der Familie. Über sie haben wir den Zugang zu den Männern und Kindern. Männer sind hervorragende Sozialarbeiter, aber von Mann zu Mann ist es doch etwas anders als von Frau zu Frau.
Was bedeutet für Sie gute Nachbarschaft?
Gute Nachbarschaft ist das, was wir „die aufsuchende Sozialarbeit“ nennen. Hingehen. Schauen. Abklären, ob etwas fehlt. Um Hilfe bitten. Im Stande sein, sich in die anderen einzufühlen. Andere nicht als Bedrohung empfinden. Das Bemühen um ein Wir. Wir betreuen etwa somalische, tschetschenische und türkische Familien.
Nachbarschaft hat da einen anderen Stellenwert als bei uns
Österreicherinnen.
Wie steht’s denn Ihrer Meinung nach um dieses „Wir“ in der österreichischen Politik?
Da fehlt es, dieses Bemühen um ein Wir. Der Politik fehlt die Bereitschaft zum Risiko. Stattdessen geht es um Abgrenzung, um „die sollen wieder zurück, wo sie herkommen“. Nicht falsch verstehen, ich bin vollkommen dagegen, alles zu akzeptieren. Es geht darum, Rückgrat mit Herz und Hirn zu verbinden. Nehmen Sie Spanien unter den Mauren – das ist über ein paar Jahrhunderte so eine befruchtende, sensationelle Geschichte gewesen! Die Toleranz und die Bereitschaft zur Gemeinsamkeit waren enorm, und daraus ist ein blühendes Reich entstanden.
„Es geht darum, Rückgrat mit Herz und Hirn zu verbinden.“
Auf 4.074 Hausbesuche, 2.066 begeleitete Amtswege und 880 intensiv betreute Familien können die NACHBARINNEN bereits verweisen.
Ihr Mann war in den 80er- und 90er-Jahren Politiker und Bundesminister unter Bundeskanzler Franz Vranitzky. Haben Sie persönlich nie daran gedacht, in die Politik zu gehen?
Ich habe darüber nachgedacht, aber ich bin dazu vielleicht zu feig. Es wollte auch noch keiner von mir, und jetzt bin ich so felsenfest überzeugt von dem, was ich gerade mache, dass es nichts mehr wird.
Als Ihr Mann in die Politik ging, waren Sie ja sehr dagegen.
Ich hatte immer das Gefühl, das würde unser Leben entsetzlich machen. Als ein Ministerium eine Option wurde, haben wir lange geübt „Nein“ zu sagen – mit verteilten Rollen. Die Antwort war dann bekanntlich doch ein „Ja“.
Wie war es nach dem „Ja“?
Als das „Ja“ gesagt war, war es sensationell. Endlich wurde nicht nur am Wirtshaustisch gesagt, wie es gehen könnte und wie man es machen sollte – der Konjunktiv wich den Tatsachen. Mein Mann hat aber andere Fähigkeiten als ich. Ich wäre für diesen Job viel zu emotional, würde pausenlos aus der Hüfte schießen und würde wohl innerhalb kürzester Zeit schwerstens stolpern.
Was wünschen Sie sich von der Politik heute?
Menschlichkeit. Die Fähigkeit, zu reflektieren, wie die Situation derer ist, für die man Gesetze, Restriktionen und Förderungen macht. Manches muss restriktiver behandelt werden, aber es darf nicht ausufern. Man darf Menschen nicht in die Armut drängen, man muss differenziert vorgehen. Für jeden Menschen ist etwas anderes entscheidend. Das gilt für Österreicherinnen und Nichtösterreicherinnen.
Bei den NACHBARINNEN machen wir die Erfahrung, dass individuelle Beratung und Betreuung viel wirksamer sind als Hilfe nach dem Gießkannenprinzip. Es geht immer um Beziehungen und das Miteinander – und dieses Locken in Richtung der Gesellschaft durch unsere Nachbarinnen funktioniert.
„Individuelle Beratung und Betreuung sind viel wirksamer als Hilfe nach dem Gießkannenprinzip.“
Christine Scholten mit Ehemann Rudolf Scholten – ehemaliger Kulturminister
Die Buntheit und Vielfalt des 10. Bezirks Favoriten, in dem Christine Scholten bis vor zweieinhalb Jahren eine Ordination führte, gefällt ihr „irre gut“.
Sie wohnen im ersten Bezirk. Wie erleben Sie selbst Nachbarschaft?
Ich habe keine Nachbarn im klassischen Sinne. In dem Haus, in dem wir leben, leben fast ausschließlich meine Geschwister und ihre Kinder. Ich habe drei Geschwister und die jeweils drei Kinder. Alle leben in diesem einen Haus.
Die eigene Familie in direkter Nachbarschaft – das funktioniert?
Das funktioniert wunderbar. Ich kann gar nicht sagen, wie es mit Nicht-Familien-Nachbarn ist. Wenn man etwas braucht, gibt es WhatsApp. Wenn es schnell gehen muss, haben wir den Aufzug für die Butter und auf jeden Fall immer einen Kaffee oder ein Glas Rotwein für ein Thema. Das ist unsere gelebte Nachbarschaft.
Bis vor einem Jahr haben Sie noch als Ärztin gewirkt. Ihre Ordination war in Favoriten. Warum gerade in diesem Bezirk?
Ich habe meine Ordination aus mehreren Gründen dort gegründet: Erstens weil der Bezirk schnell für mich erreichbar war. Und zweitens weil er mir einfach irre gut gefällt. Favoriten hat eine Buntheit und Vielfalt, die mich sehr angesprochen hat, und mit dem Beruf, den ich dort ausgeübt habe, wollte ich denen helfen, die es wirklich brauchen. Medizinisch und menschlich. In einem Jahr habe ich ungefähr 10.000 Menschen gesehen. Ich glaube, den meisten konnte ich wirklich helfen. Nicht nur mit Medikamenten, sondern einfach auch durch kurze, sehr intensive Zuwendung.
„Mein Nutellafass zu teilen ist mir ein großes Bedürfnis.“
„An der Entwicklung von NACHBARINNEN haben die Frauen intensiv mitgewirkt. Deshalb ist es wohl so gut gelungen“, so Renate Schnee, die Mitinitiatorin des Projekts.
Eine Privatordination war kein Thema für Sie?
Eine Privatpraxis hätte ich nie im Leben aufgemacht. Bei mir wartet niemand länger, nur weil man anders versichert ist, und man bekommt auch keine andere Behandlung. Im Gegenteil: Im öffentlichen Gesundheitssystem werden die Patientinnen meiner Meinung nach besser betreut als in Privatkliniken. Auch wenn es noch so viele Fehler gibt, aber der Bonus der Sonderbehandlung ist meistens ein Malus.
Sie waren während Ihres Studiums Bewährungshelferin und Pflegerin. Woher kommt Ihr soziales Engagement?
Ich hatte immer das Gefühl, ich bin in einem Nutellafass geboren. Und ein bisserl dazu beizutragen, dass mein Nutellafass auf verschiedene Brote gestrichen wird, das war schon immer in mir. Mein Nutellafass zu teilen ist mir ein großes Bedürfnis.
Wie soll es mit den NACHBARINNEN weitergehen?
Aktuell ist das Projekt unser Baby. Der große persönliche Einsatz macht sich bezahlt. Wir haben ein Team von zehn Nachbarinnen. Wir würden gerne wachsen. Viele derzeit völlig chancenlose Frauen würden mit unserer Hilfe einen Arbeitsplatz bekommen.
Vor zweieinhalb Jahren haben wir mit einer Nähwerkstatt begonnen, die sich sensationell entwickelt. Mein größter Traum wäre es, dass die Nähwerkstatt die Nachbarinnen finanziert. Aktuell sind wir großteils spendenfinanziert – unser Spendenkonto freut sich sehr, wenn Sie es füttern (lacht). Bis sich das Projekt aber selbst trägt, ist es noch ein weiter Weg. Vielleicht kommt ja einmal die Stadt Wien und sagt: „Das ist ein richtig gutes Projekt. Das machen wir in der ganzen Stadt.“