Die Sozialanthropologin

Mode, Codes und Rituale

Tereza Kuldova lebt eigentlich in Oslo, zur Zeit aber in Wien, und geboren ist sie in Prag. In Wien forscht sie über Outlaw Motorcycle Clubs in Zentraleuropa. Sonst interessiert sie sich für Dinge wie "erotic masquerades of brides, gods und vamps" aus Indien. Ausserdem ist Kuldova eine ziemlich schillernde und charismatische Bereicherung für das Wiener Stadtleben.

"Manchmal lässt sich das Aussergewöhnliche im Gewöhnlichen nur als Aussenstehender wahrnehmen."

Petra Zechmeister: Dein Deutsch ist ziemlich gut!

Tereza Kuldova: Deshalb führen wir das Interview auch auf Englisch! Aber ja, mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung lernt man das in Österreich mitunter ganz schnell. Kürzlich, als ich im Speisewagen im Zug von Wien nach Linz saß, traf ich auf eine lustige Männergruppe, die mir unbedingt österreichische Redewendungen beibringen wollte. Mutig musste ich folgendes nachsprechen: „Schöne Waldln haben die Madl“ und „geh ma net am Oasch, Oida“. Man fühlt sich sofort heimisch, nicht wahr?

Ist Dir als Anthropologin in Österreich irgendetwas besonders aufgefallen?

Ich komme aus der Tschechischen Republik, die ja bekannt ist für ihren vorherrschenden Atheismus. Die Religiosität und die Offenheit innerhalb der Kirche sogar heidnische Rituale einfließen zu lassen, ist in Österreich für mich interessant und beeindruckend. Während der Fussball EM habe ich im Waldviertel die Sonnenwendfeier eines Dorfes besucht. Auf der Spitze des aufgerichteten Holzes thronte eine nette Vogelscheuche aus Stroh, die hatte ein Fußballtrikot von Ronaldo an und wartete darauf, in Flammen aufzugehen. Davor hat ein lokaler Priester, vermutlich aus Afrika, eine lange Rede gehalten. Anschließend hat er das Feuer mit heiligem Wasser aus der Plastikflasche gesegnet! Das war sehr interessant zu beobachten, vor allem weil es für die Anwesenden so natürlich und selbstverständlich war. Manchmal lässt sich das Aussergewöhnliche im Gewöhnlichen nur als Aussenstehender wahrnehmen.

Du bist nicht über die Forschung zu klassischer Musik oder Architektur nach Wien gekommen, sondern auch wegen Deines Interesses an der Subkultur der Motorrad Gangs. Ist Wien ein Hotspot für diese Tough guys?

Ich habe ein Stipendium vom Research Council of Norway für ein dreijähriges Forschungsprojekt bekommen mit Fokus auf die Outlaw Motorcycle Gangs, wie zum Beispiel den legendären Kult Motorrad- und Rockerclub Hells Angels MC in Österreich, der Tschechischen Republik, Teilen von Deutschland und der Slowakei. Dieses Projekt brachte mich als Senior Visiting Researcher an die Universität Wien. Es untersucht die subkulturelle Mode und ihre Ästhetik in Bezug auf die Ideologie dieser Vereine und die kulturelle Logik von Logos und Symbolen innerhalb der Biker-Subkultur.

Warum sind Logos so enorm wichtig für die Biker?

Ja, Logos sind denen „heilig“. Sie werden oft sogar markenrechtlich geschützt und sind auch mit verschiedenen rituellen Praktiken verbunden. Als solche sind sie primär Träger dieser Kultur, die sich mittlerweile um den ganzen Globus spannt und ausgebreitet hat. Genau diese Ästhetik, die Logos und die mit ihnen assoziierten Rituale ermöglichen diesen Kulturen zu wachsen und so einen großen Erfolg zu haben. Die Untersuchung dieser kulturellen Logik von Logos und Symbolen kann uns, glaube ich, auch etwas Grundsätzliches und Universelles über unser Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit aufzeigen: Ein universelles Merkmal von Menschlichkeit, effektiv ausgenutzt durch den zeitgenössischen Kapitalismus.

"Erst die Sprache weckte mein Interesse und meine Leidenschaft zu dieser Kultur."

Tereza, als wir uns vor einem Jahr kennenlernten, hast Du in Norwegen gelebt und hattest gerade Dein Buch mit dem Titel „Luxury Indian Fashion: A Social Critique“ fertig geschrieben, eine überarbeitete und gekürzte Version Deiner Doktorarbeit. Darf ich Dich fragen, was Dich nach Norwegen geführt hat und warum Du Englisch mit einem starken indischen Akzent sprichst? Wo liegen die Anfänge?

In Prag. Das ist eine lange Geschichte. Ich studierte dort Sozialanthropologie und im Jahr 2006 wurde ich gefragt, ob ich mich für ein EEA Stipendium in Norwegen bewerben möchte. Das Stipendium bekam ich aufgrund zweier Dinge. Erstens, und das mag jetzt etwas verrückt klingen, wegen Jesus ...

... Jesus?

Ja, Jesus und zweitens, weil ich seit meinem 15. Lebensjahr Norwegisch studiert und ein Buch von Thomas Holland Eriksen, ein berühmter norwegischer Sozialanthropologe, ins Tschechische übersetzt hatte. Deswegen sollte ich mich für dieses Stipendium bewerben. Es gab aber noch ein anderes Mädchen, das war viel älter und erfahrener als ich. Ich war mir sicher, dass sie das Stipendium bekommen würde. Sie ist dann aber zwischenzeitlich einer religiösen Sekte beigetreten, und als sie quasi einen direkten Draht mit Jesus hatte, sagte er ihr: "Mädel, du darfst nicht verreisen, du bist hier besser aufgehoben mit deinen spirituellen Schwestern, also bleibe in der Tschechischen Republik". So war letztendlich dann ich diejenige, die nach Oslo fuhr und an der Universität Anthropologie studierte.

„Schöne Waldln haben die Madl“

Wie bist Du nach alledem in Wien gelandet, um ausgerechnet hier über Outlaw Motorcycle Gangs zu forschen?

Ich half meiner Freundin Lill-Ann Chepstow-Lusty, einer Fotografin und Kuratorin, die Ausstellung „For the Love of Freedom“ 2014, im Historischen Museum in Oslo zu kuratieren. Ihre Idee war, im "Namen der Freiheit", die Hells Angels MC ins Museum einzuladen. Damals protestierten viele Leute dagegen, weil man damit eine kriminelle Organisation billigen würde. Trotz dieser Kontroverse schaffte sie es, die Idee energisch weiterzuverfolgen. Eines Tages, als ich den norwegischen Fotografen Marcel Leliënhof interviewte, er folgte und dokumentierte das Leben der norwegischen Hells Angels, erwähnte er, wie wahnsinnig besessen sie sind, ihre Logos zu schützen, und dass sie sogar bereits Alexander McQueen geklagt hätten. Sofort war ich fasziniert von diesem Rechtsstreit und startete mein Projekt.

Aber woher Dein indisches Englisch?

Ursprünglich wollte ich, zusätzlich zur Anthropologie, noch eine weitere Sprache in Oslo studieren. Meine erste Wahl war Finnisch. Es wurden aber keine Finnischkurse angeboten, und weil ich mich damals sehr schnell entscheiden musste, wählte ich spontan Hindi. Ich hatte keine Ahnung von Indien, erst die Sprache weckte mein Interesse und meine Leidenschaft zu dieser Kultur.

„Ich hatte keine Ahnung von Indien."

Wann bist Du zum ersten Mal nach Indien gereist und warum?

Das war 2008, im Zuge meiner Forschungen für die Doktorarbeit. Ich reiste in die nordindische Stadt Lucknow, die Hauptstadt von Uttar Pradesh, um die Hindu-Moslem-Beziehungen in der Stadt zu untersuchen. Lucknow versteht sich als eine aufgeklärte, liberale und kulturelle Stadt, deren Hauptmerkmal die harmonischen gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der Wirtschaft, nämlich im lokalen Handwerk der Baumwollindustrie. Lucknow ist bekannt für seine speziellen Stickereien, die sogenannte Chikankari. Signifikant dabei ist die mehrstufige Produktion: Verschiedene Handwerksberufe, wie Schneider, Schnittmacher, Wäscher, Färber, Sticker, Händler bis hin zu den Exporteuren, formen gemeinsam diese Industrie, und bilden quer durch alle Gesellschaftsschichten – von Kaste, Geschlecht, Klasse, Religion und sogar Lokalität – ein Netzwerk von Abhängigkeiten. Durch diese ökonomischen Netzwerke von Abhängigkeitsverhältnissen wird eine Brücke zwischen den Gemeinschaften geschaffen und Streit verhindert.

Du bist über Lucknow zum Schreiben über indische Luxusmode gekommen?

Als ich Indien im selben Jahr wieder verließ, fiel mir auf, dass plötzlich Fashion Designer in die Dörfer kamen und sich für lokales Kunsthandwerk, wie zum Beispiel das Chikankari, interessierten und es in ihre Kollektionen einfließen ließen. Das war natürlich ein bedeutender Eingriff und führte zu einer abrupten Veränderung der Produktionsabhängigkeiten. Abgelegene Dörfer waren auf einmal mit der globalen elitären Fashion Economy vernetzt, alte Stiche und Techniken wurden wiederbelebt und führten zu einer höheren Qualität der Stickerei. Ich untersuchte und verfolgte diese Veränderung von den verarmten Dörfern bis zum Laufsteg, zu den Orten der Konsumenten, der Wirtschaftselite, und schrieb darüber ein Buch: Luxury Indian Fashion: Social Critique (Bloomsbury, 2016).

Dein Resümee?

Die Rolle des Designers war neu in Indien. Die bis dahin nur den Handwerkern, Weber und Schneider bekannten Designer, wurden erst in den 90er Jahren prominent. Die Analyse der Machtverhältnisse zwischen den Designern und Handwerkern bilden die Grundlage meines Buches. Ganz besonders hat mich interessiert, wie die Kunsthandwerker als eine gleichförmige, unidentifizierbare Masse von ausgebildeten, aber untalentierten Leuten dargestellt werden, die zwar traditionell, aber nicht innovativ sind, währenddessen die Designer das "Ideal des kreativen individuellen Genies" verkörpern. Im Grunde wird einer großen Menge von talentierten und innovativen Leuten jegliche Kreativität und Individualität abgesprochen. Eine Ideologie, die sie faktisch laufend in Armut hält. Ich habe die Wirtschaftselite und die Konsumenten von Luxusmode erforscht und ihre unklaren Beziehungen zu der Unterschicht – den sogenannten „Anderen“ – analysiert. Sie ist gekennzeichnet von Vetternwirtschaft, Ignoranz und Angst.

Wie gefällt Dir Wien?

Wien ist wunderschön. Am liebsten bin ich im Kunsthistorischen Museum. Eine jährliche Mitgliedschaft dort ist unumgänglich! Das Café im obersten Stockwerk ist für mich der perfekte Ort, um zu schreiben, zwischen all den imposanten Kunstgegenständen, die von den Habsburgern gesammelt und gehortet wurden. Und die Wiener Kaffeehäuser! Das Café Engländer rangiert ganz oben auf meiner Liste. Seine hervorragenden Kellner sind alle auf ihre Weise charmant! Wien ist eine großartige Stadt, gerade wenn man aus Oslo kommt, wo es an ähnlicher städtischer Zuvorkommenheit mangelt.

Ich danke für das Gespräch.

Tereza Kuldova (geboren 1985 in der Tschechischen Republik) ist Anthropologin mit Schwerpunkt Südasien. Ihr Fachgebiete sind Modedesign, Creative Industries und Wirtschaft. Sie ist Doktorin der Sozialanthropologie an der Universität Oslo. („Designing Elites: Fashion and Prestige in Urban North India“, 2013). Ausserdem war Tereza Kuratorin zahlreicher Ausstellungen im Kulturhistorisk Museum in Oslo.

www.tereza-kuldova.com

Die Genetikerin

Text: Viktoria Kirner, Artwork: Markus Schinwald

Susanne Kircher ist Humangenetikerin. Sie beschäftigt sich mit seltenen genetischen Stoffwechselerkrankungen, die zu körperlichen Abnormitäten führen. Sie ist eine absolute Koryphäe auf ihrem Gebiet und ist liebenswürdig bemüht, Laiinnen komplizierteste Sachverhalte verständlich zu erklären. So auch uns. Ein Gespräch über Gene, Gott und Gargoylismus