Die Tränensammlerin

Kunst mit Tränen

Die spanische Künstlerin Teresa Lucena weint viel. Tränen sind für sie wahre Schönheiten, denn in ihnen nehmen unsere Gefühle materielle Gestalt an. In ihrer Arbeit With tears in the eyes offenbart sich jede Träne als einzigartige Landschaft. 

Text: Paula Pankarter, Artwork: Teresa Lucena

„Hinter jeder Träne steht eine Geschichte.“

Wann hast Du das letzte Mal geweint? 

Sonntagabend. 

Wieso machst Du Kunst mit Tränen?

Die Idee entstand aus der Traurigkeit heraus. Ich war in einer Lebensphase, in der ich mich vollkommen verloren fühlte. Ich suchte nach Veränderung, aber egal, wie sehr ich mich auch bemühte, mein Leben schien sich wie Kaugummi zu ziehen. Um mich herum entwickelte sich jeder weiter, nur ich kam nicht von der Stelle. In dieser Zeit weinte ich viel. Dann kam mir die Idee, dass hinter jeder Träne eine Geschichte steht. Ich begann, genauer hinzusehen und entdeckte, wie jede Träne, je nach der Situation, in der ich sie geweint hatte, auch eine andere Struktur aufwies. Das faszinierte mich!  

„Das Schönste an Tränen ist ihre Fähigkeit zu befreien.“

Kannst Du Dich noch daran erinnern, als Du das erste Mal in Wien geweint hast? 

Allerdings! 2017 besuchte ich Freunde in Wien – mir ging es damals nicht so gut. Eines Morgens war ich allein in deren Wohnung und malte. Plötzlich überflutete mich ein Strom von Emotionen. In mir hatte sich ein Meer voller Gefühle angestaut, und als meine erste Träne fiel, war das so, als würde ein Damm brechen. Nachdem ich geweint hatte, war ich so glücklich, dass ich laut lachen musste, und es folgte ein wunderbarer Tag in Wien: Ich hatte mich selbst wiedergefunden, verband mich erneut mit dieser Stadt, aus der ich einst vor vielen Jahren geflohen war, und traf sogar eine alte Liebe wieder. Das war ein wichtiger Tag für mich, an dem ich mich entschloss, erneut nach Wien zu ziehen. 

Welche Träne ist die schönste? 

Wäre es egoistisch zu sagen, dass es die sind, die ich selbst geweint habe? Jede einzelne Träne ist eine Schönheit, sei es wegen der Geschichte, der sie entsprungen ist, oder wegen ihres fantastischen Musters. Aber das Schönste an Tränen ist, ihre Fähigkeit zu befreien, all die Gefühle nach außen strömen zu lassen, die einen von innen zu ersticken drohen. In Tränen nehmen Emotionen materielle Gestalt an. Sie erscheinen uns als winzige Wassertropfen. Erst unter dem Mikroskop offenbaren sie ihre wunderschönen Strukturen. Durch meine Tränen habe ich entdeckt, welche Schönheit sich in meinem Innersten verbirgt. 

Danke für das Interview!

Dieses Interview ist in der Printausgabe 2/2021 „The Beauty Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.

Teresa Lucena (* 1988 in Córdoba, Spanien) hat in Sevilla Architektur studiert und arbeitet mit Fotografie und Malerei. In ihrer Kunst reflektiert sie die Beziehung des Individuums zu sich selbst und zu anderen. Sie beschäftigt sich insbesondere mit den Themen der Immigration und dem Umgang mit Emotionen. Seit November 2018 lebt und arbeitet sie in Wien.