„Schlafen kann ich, wenn ich tot“ bin und „sleep is for the weak“ sind Parolen unserer Leistungsgesellschaft, die korrigiert werden sollten: Wer nicht schläft, ist tot, und auch das Träumen ist für Körper und Psyche überlebenswichtig. Brigitte Holzinger ist Schlafcoach und leitet das Wiener Institut für Bewusstseins- und Traumforschung. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, ob man den Kapitalismus „zerschlafen“ und Krisen wegträumen kann.
Traumbilder der österreichischen Künstlerin Coco Wasabi begleiten dieses Interview. Ihre Collagen changieren zwischen Traum und Wirklichkeit. Studiert hat sie bei Daniel Richter an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Eva Holzinger: Was haben Sie gestern Nacht geträumt?
Brigitte Holzinger: Der Traum existiert nur noch als abstrakte Erinnerung, als Klang: Wu-Cha-Cha. Ich habe es gesungen, gebrummt, regelrecht herausgewürgt. In Zeiten der Corona-Krise ist es vielleicht kein Zufall, dass es asiatisch, ja fast wie die Stadt Wuhan klingt, das Epizentrum der Pandemie.
Durch COVID-19 steht unser Alltag still. Wir sitzen uns nicht gegenüber, sondern skypen. Was raten Sie Personen, die in der Selbstisolation schlechter schlafen?
Schlaf ist das wichtigste strukturgebende Element in unserem Leben. Es gilt also, die eigenen idealen Einschlaf- und Aufwachzeiten zu erkennen und ihnen jeden Tag zu folgen. Tatsächlich scheint es aber so zu sein, dass viele Menschen bei Ausgangsbeschränkungen nicht schlechter, sondern besser schlafen.
Woran liegt das?
Ich kann nur raten. Möglicherweise weil man keine Angst mehr hat zu verschlafen. Die Sorgen, die man in der Arbeit oder der Schule hat, fallen weg beziehungsweise verändern sich, so auch der Leistungsdruck. Man kann sich den Tag besser einteilen, zum Beispiel auch tagsüber kurz schlafen.
Kann man sich ganz neue Schlafrhythmen antrainieren?
Grundsätzlich gibt es mono-, bi- und auch polyphasen Schlaf. Biphasisch meint eine Schlafverteilung auf einen Nacht- und Mittagsschlaf, also zum Beispiel Kulturen, die Siesta halten. Polyphasisch bedeutet, wenige Stunden tagsüber verteilt zu schlafen – das kann in so einer Krisenzeit vor allem für Ärztinnen und Einsatzkräfte wichtig sein. Der breiten Masse würde ich das aber nicht empfehlen, weil es professioneller Begleitung bedarf. Grundsätzlich ist es besser, auf die innere Uhr zu hören und die ist soweit wir wissen mono- oder biphasisch.
„Träume und die Fridays-for-Future-Bewegung gehören für mich zusammen.“
Für Brigitte Holzinger ist klar: „Die Menschen müssen wieder lernen, in sich hineinzuhören. Apps können dabei schon helfen, aber langfristig geht es darum, sich selbst Geborgenheit und Selbstsicherheit zu schaffen, denn: Man selbst schläft.“
Verlieren wir in Zeiten der durchgehend leuchtenden Bildschirme unsere innere Uhr? Was halten Sie von boomenden Matratzen-Start-ups, smarten Schlaf-Tracking-Apps und Einschlaf-Podcasts?
Bei solchen Trends muss ich immer schmunzeln. Jede schläft anders gut. Man benötigt aber sicher keine Matratze, die so viel wie ein Kleinwagen kostet. Schlaf ist individuell. Die Menschen müssen wieder lernen, in sich hineinzuhören. Apps können dabei schon helfen, aber langfristig geht es darum, sich selbst Geborgenheit und (Selbst-)Sicherheit zu schaffen, denn: Man selbst schläft. Gemeint ist hier unser Selbst als übergeordnete Ganzheit, während unser Ich – der bewusste Teil des Selbst – sich zurückzieht.
Nicht nur Tesla-Chef Elon Musk rühmt sich damit, mit nur wenig Schlaf auszukommen. Warum glauben wir, dass langer Schlaf etwas für Schwache ist?
In der Monarchie war es offenbar bereits ein Beweis von Leistung oder Leistungswillen, wenig zu schlafen. Das Volk und sein Schlaf wurden bereits damals unterdrückt. Die Armen waren sogenannte Bettgeherinnen und hatten nicht einmal eine eigene Ruhestätte. Heute leben wir in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, die uns müde macht; wir leben aber auch in einer Zeit, in der wir wieder selbstbestimmter sein können. Das sollten wir nutzen. Es klingt paradox, aber: Schlaf ist eine Art des Anteilnehmens am Leben. Wer mehr schläft, ist lebendiger.
Das heißt, Schlaf könnte eine Form von Aktivismus sein?
Wir sind ferngesteuert von systemischen Prozessen, weil wir unsere Träume unterdrücken und vernachlässigen. Zu wenige REM-Phasen – das sind die Phasen, in denen wir träumen – entkoppeln uns von uns selbst; dann lassen wir uns alles gefallen, folgen, ohne zu hinterfragen, sind leichtgläubig oder verpesten die Luft. Daher gehören Träume und die Fridays-for-Future-Bewegung für mich zusammen. Wenn wir mehr schlafen und träumen, können wir nicht nur dieser Corona-Krise entgegenwirken. Wer sich Zeit zum Träumen nimmt, gewinnt Kraft, Energie und Kreativität.
Also ist Träumen keine Zeitverschwendung, sondern vielleicht mehr Realität als die vermeintliche?
Ich habe meine Karriere in der Gestalttheorie begonnen. Traumwahrnehmung hat hier einen ähnlichen Stellenwert wie die Wachwahrnehmung. Jede von uns hat im Laufe des Daseins die Welt, wie sie diese wahrnimmt und träumt, mit erschaffen. Träume formen uns, und wir formen die Welt. Die Forschung geht außerdem davon aus, dass so etwas wie Träumen andauernd, auch im Wachzustand, vor sich geht – beim Einschlafen wird das Träumen dann deutlicher und im REM-Schlaf am besten wahrnehmbar.
Also ist ein Traum auch immer eine Form von Wahrheit?
Auf eine gewisse Art und Weise schon. Man ordnet das Träumen den Hirnarealen zu, die auch dem Fühlen zugeordnet werden. Träumen ist Fühlen, und Gefühle sind wahr und helfen uns beim Erkennen. Träumen ist Lernen. Träumen heißt, neue Sichtweisen auf die Welt zu entwickeln. Es gibt ein spannendes Experiment mit Ratten. Man hat sie vor einen gegabelten Gang gesetzt, hinter dem versperrten Arm befand sich eine Futterquelle. Es wurde beobachtet, dass die Ratten nachts von Lösungswegen geträumt, den Gang zu Ende gedacht haben. Träumen ist nicht nur ein Verarbeiten von Vergangenem. Es ist ein Weiterdenken, ein Zukunftsdenken.
Man sagt auch, dass Menschen und Tiere über den Traum im Erbgut codierte Überlebenstricks weitergeben. Das wäre eine Form von Kommunizieren …
Ja, Träumen ist vielleicht auch Kommunikation. Alleine das Sprechen über Träume ist schon ein sehr intimer Akt. Man fühlt sich Menschen, denen man Träume mitgeteilt hat, besonders verbunden, das macht Träumen einmal mehr zu einem friedenstiftenden Kommunikationsmittel. Ich schließe auch nicht aus, dass es eine Art Traum-Kanal gibt, auf dem man tatsächlich kommuniziert. Das gilt es aber noch zu erforschen.
Also eine Art Traumwelt, in der wir alle aufeinandertreffen könnten?
So in etwa. Carl Gustav Jung hat die Idee des kollektiven Unterbewussten beschrieben, also eine Art psychischer Grundstruktur, etwas Überpersönliches, das wir alle teilen. Wir sind alle verbunden: miteinander, mit der Natur, mit der Welt. Warum soll es also nicht möglich sein, im Traum zu kommunizieren? Ich bin nicht esoterisch und halte nichts von schwarzen Katzen, aber das kann ich mir gut vorstellen.
„Warum soll es nicht möglich sein, im Traum zu kommunizieren?“
Man kann im Traum auch mit sich selbst kommunizieren, wie etwa bei luziden Träumen, auch Klarträume genannt.
Die Träumende ist sich bei einem luziden Träumen darüber bewusst, dass sie träumt, sie kann sogar den Verlauf des Traums aktiv beeinflussen. Dieses Steuern erlaubt es zum Beispiel, wiederkehrende Albträume zu bekämpfen.
Sie haben eine eigene Methode entwickelt, die „DreamSenseMemory“.
Drei Monate lang habe ich mich dem Method Acting, einer Technik aus der Schauspielerei, gewidmet. Man stellt sich beispielsweise stundenlang vor, wie man eine Orange schält; erst kommen sinnliche Erinnerungen hoch und schließlich auch emotionale. So sehe ich einen Traum: Sinnlich, wie die Orange, muss man ihn entblättern. Die „DreamSenseMemory“ will Träumen sinnlich auf die Spur kommen, nicht nur kognitiv. Man taucht ein wie in ein Kunstwerk. So kann man Verdrängtes oder Unangenehmes wahrnehmen und würdigen.
Kann man durch luzides Träumen ein zweites paralleles Traum-Leben führen? Eine sexuell erfüllte, erfolgreiche und wunschlos glückliche Virtual Reality?
Das halte ich für gefährlich. Ja, man kann Befriedigung (mit sich selbst) erleben und manche Gefühle sogar deutlicher spüren. Aber einen Dialog führen, etwas Gemeinsames kreieren – das ist unmöglich. Es wäre ein großer Fehler, das im Traum zu suchen. Es kann psychisch krank machen, bei labilen Personen eine Psychose induzieren. Die Träumende muss immer wissen: Wo bin ich zuhause? Ich darf mich im Träumen nicht verlieren, in einem Traum aber schon.
„Ich darf mich im Träumen nicht verlieren, in einem Traum aber schon.“
Selbstverständlich! Ich liebe meine eigenen Träume und empfinde es als großen Luxus, dass ich meine Tage meistens ohne Wecker beginne. Man fühlt sich am besten, wenn man erst aufwacht, wenn ein Traum zu Ende geträumt ist.
Können Sie uns von einem Ihrer luziden Träume erzählen?
Ich war Ende Zwanzig und wohnte damals im 9. Bezirk, im letzten Stock, über mir befand sich die ehemalige Waschküche. Der Traum beginnt damit, dass ich in diesen großen Dachboden gehe, es tummeln sich viele Menschen, sogar Sandler. Ich merke, dass ich träume. Der Dachboden wird größer und freier, ich sehe einen Rottweiler in einem Zwinger. Ich habe Angst, aber drehe mich trotzdem in seine Richtung, stelle mich dem Hund. Er wird größer, richtet sich auf, verwandelt sich auf einmal in einen Bären und schließlich in ein großes Stofftier mit Reißverschluss. Zum Vorschein kommt ein junger Mann. Man sieht hier klar, wie Gefühle das Traumbild gestalten. Die Angst ist das Monstertier, der Mut das Stofftier mit Reißverschluss, der das Bild verändert: Es wird zu einem Abenteuer, einem Lachen. Die Angst wird zu jemandem, mit dem man einen Dialog finden kann.
Was wollen Sie noch erforschen?
Der Traum ist ein Ausdruck von Sinnlichkeit und Körperwahrnehmungen, der uns tagsüber weniger zugänglich ist. Ich möchte also gerne herausfinden, inwiefern Traum, Traumarbeit und luzides Träumen Einfluss auf unseren Körper haben können. Wie kann ich zum Beispiel gewisse Krankheiten mit luziden Träumen langfristig positiv beeinflussen?
In diesem Sinne – träumen Sie gut und danke für das Gespräch.
Brigitte Holzinger, 1962 geboren in Wien, studierte an der Universität Wien und der Stanford University in Kalifornien Psychologie studiert, bevor sie in Wien ihre eigene Praxis eröffnete. Sie hat mehrere Bücher zu den Themen Schlaf, Albtraumbewältigung, Psychotherapie und Gestalttheorie geschrieben.