Die Urbanistinnen

Wem gehört die Stadt?

Städte kann man am Computer planen, man kann sie aber auch hören, riechen, schmecken, fühlen. Im besten Fall sind sie für alle da. Wir sprechen mit der dänischen Architektin Sofie Burgos-Thorsen und der niederländischen Medienforscherin Sabine Niederer. Beide sind Teil des Urban Belonging Project, das heuer Gast bei der Ars Electronica (6. bis 10. September in Linz) ist. Neun Wissenschaftlerinnen und Planerinnen haben sich zusammengetan, um die Stadt Kopenhagen durch die Augen und Ohren derer zu betrachten, die sonst keine Stimme haben.

„Alles lädt zum Verweilen ein!“

Maja Goertz: Warum ist Kopenhagen eine so lebenswerte Stadt?

Sofie Burgos-Thorsen: Ich bin in Kopenhagen aufgewachsen und empfinde es als sehr offen. Der Mensch ist dort der Maßstab. Die Stadt ist so konzipiert, dass alles mit dem Fahrrad oder zu Fuß erreichbar ist. Außerdem gibt es viele Grünflächen und Plätze am Wasser, man kann den öffentlichen Raum also nutzen, ohne dabei konsumieren zu müssen. Das Schönste an Kopenhagen ist der Hafen. Es gibt Stege und Liegeflächen, überall kann man ins Wasser springen.

Sabine Niederer: Als Niederländerin liebe ich natürlich auch das Fahrradfahren in dieser Stadt und das dänische Design, es ist so elegant. Alles lädt zum Verweilen ein! 

Jan Gehl, der berühmte Kopenhagener Stadtplaner, meinte, dass die Städte von heute nicht mehr nur um Kapital und kluge Köpfe, sondern um Lebensqualität konkurrierten. Was kann Wien von Kopenhagen lernen?

Im Gegensatz zu New York, wo man jeden Tag stundenlang in U-Bahn-Tunneln verbringt, kann man von Kopenhagen lernen, wie gut mit uns Fahrradfahrerinnen umgegangen wird. Das Radeln erzeugt bei allen jeden Tag so ein Freiheitsgefühl und bringt so viel Freude. 

„Kein Trauma-Porn“

Für Euer „Urban Belonging Project“ habt Ihr mit Menschen aus marginalisierten Gruppen über ihr Zugehörigkeitsgefühl in Kopenhagen gesprochen. Wer sind diese Menschen?

Im Fokus standen bei uns Menschen mit körperlicher Behinderung, psychischer Erkrankung, Obdachlose, Gehörlose, queere Personen, ethnische Minderheiten und Menschen, die in Dänemark leben und kein Dänisch sprechen. Unter unseren Teilnehmerinnen gab es natürlich viele Überschneidungen, zum Beispiel gehörlose Menschen, die auch noch unter einer psychischen Erkrankung leiden.

Was war das Schöne an der Zusammenarbeit mit jenen Personen?

Uns hat berührt, dass viele uns positive Dinge über ihr Leben in Kopenhagen berichtet haben. Wir wollten auf keinen Fall zu einem „Trauma-Porn“ einladen. Viele haben uns erzählt, dass sie in der Vergangenheit immer nur dazu aufgefordert wurden, sich im negativen Sinne zu äußern und zu erzählen, was für sie alles nicht funktioniert.

„Hinwollen, aber nicht hinkommen“

Das heißt, nicht alle nehmen eine Stadt gleich wahr?

Man erlebt eine Stadt immer sehr subjektiv. Jede und jeder hat eine andere Wahrnehmung und eine eigene Art, sich in ihr zu orientieren. Manche würden Kopenhagen nur mit der Altstadt und historischen Architektur verbinden. Für andere wäre es nicht viel mehr als die Einkaufsstraße, wo alle großen Geschäfte aneinandergereiht sind. Und für wieder andere ist Kopenhagen ein Gebiet außerhalb der Innenstadt, in dem sie leben. Die Stadt wird von allen unterschiedlich interpretiert.

Eure Spezialität sind Methoden, die ohne Sprache funktionieren. Damit habt Ihr Gruppen eingeschlossen, die auf anderem Weg wenig Gehör finden würden. Wie haben diese Menschen Euch ihre Stadt durch ihre Augen, Ohren, Hände und Nasen zeigen können?

Wir haben sie zum Beispiel dazu aufgefordert, uns auf Karten einzuzeichnen, wo Kopenhagen für sie persönlich anfängt und aufhört. Daraus sind „Mental Maps“ entstanden. Wir haben jene, die sehen können, zum Bespiel außerdem gebeten, Fotos von der Stadt zu machen und uns Orte zu zeigen, die ihnen etwas bedeuten, weil sie sich dort entweder ausgeschlossen oder einbezogen fühlen.

Die Kopenhagener Stadtregierung hat eine Art Handbuch für „Architektur-Politik“ herausgegeben, der Untertitel lautet „Architektur für die Menschen“. Können die Daten, die Ihr gesammelt habt, politisch genutzt werden?

Die Interpretation der „Mental Maps“ zeigt uns ganz viel. Zeichnet jemand einen sehr kleinen Bereich, wissen wir, dass dieser Person der Zugang zu neuen Bereichen durch Mobilitätsprobleme fehlt. Es geht nicht darum, dass die Menschen neue Gegenden nicht kennenlernen wollen, sondern dass sie dort nicht hinkommen können. Die Hürden können ganz unterschiedlich aussehen: Es geht um Beweglichkeit, kulturelle Unterschiede oder die finanziellen Mittel.

„Partizipationsmüdigkeit“

Kann Eure Methode auch auf andere Städte übertragen werden?

Auf jeden Fall. Bürger und Bürgerinnen sollten in Stadtentwicklung und politische Entscheidungen mehr einbezogen werden. Unsere Methode macht es möglich, die Vielfalt an Erfahrungen zu zeigen. Es gibt nicht diese eine durchschnittliche Erfahrung einer Stadt, sondern viele verschiedene, die nebeneinander existieren.

Das „Handicaporganisationernes Hus“ im Kopenhagener Vorort Taastrup, in dem 24 Behindertenorganisationen ihren Sitz haben, gilt als das zugänglichste Gebäude der Welt. Was beutetet Barrierefreiheit in der Praxis eigentlich?

Eine zugängliche Stadt! Dabei geht es nicht nur um Menschen mit körperlicher Behinderung. Ein Beispiel dafür ist visuelle Navigation. Für Menschen, die in der Stadt unterwegs sind, aber kein Dänisch oder Englisch verstehen und deswegen die Schilder nicht lesen können, ist das eine riesige Herausforderung. Das gilt auch für die gehörte Orientierung: Wenn die Information, dass ein Bus ausfällt, nur über Lautsprecher und nur auf Dänisch weitergeben wird, ist sie für gehörlose Menschen nicht hörbar, für die, die nicht Dänisch sprechen, nicht verständlich.

Eure Methoden, etwa die Kartierungen und die Fotos, sind nonverbal. Warum?

Einer unserer Kollegen hat vor einigen Jahren eine Umfrage unter den Personen durchgeführt, die in Amsterdam an partizipativen Projekten teilgenommen haben. Es kam heraus, dass das Partizipative auf basisdemokratischer Basis und aufgrund unzähliger Gespräche und Meetings vor allem eines zeigte: die Gefahr der Partizipationsmüdigkeit. Sie wollten unbedingt etwas verändern, aber Stadtentwicklung ist so unfassbar komplex. Deswegen ist es wichtig, dass es auch unterschiedliche nonverbale Tools gibt, mit denen man arbeiten kann.

„Daten gerne teilen“

Was ist die Konsequenz aus dieser Erkenntnis?

Es geht darum, politischen Entscheidungsträgern bewusst zu machen, dass es bei jeder Methode zu Stadtentwicklung Menschen geben wird, die sichtbar sind, und welche, die unsichtbar bleiben. Wir müssen das kritische Bewusstsein dafür schärfen und mehr Optionen zur Teilhabe anbieten!

In den vergangenen Jahren fällt Dänemark international durch eine strikte Einwanderungspolitik auf. Ist Kopenhagen wirklich so offen für Minderheiten?

Es ist eine Frage des gegenseitigen Vertrauens, das gerade bei den Menschen zu schwinden scheint. Das sieht man zum Beispiel daran, dass viele ihre Daten nicht gerne teilen wollen, was für viele Entwicklungsprojekte aber notwendig wäre.

Wie könnte man das Vertrauen stärken, dass die Menschen ihre Daten zur Verfügung stellen?

Man darf niemandem das Gefühl geben, ausgebeutet zu werden, also die eigenen Daten herzugeben, aber dann nichts von einem Ergebnis mitzubekommen. Wir überlassen unseren Teilnehmerinnen die Kontrolle über ihre Daten und beziehen sie in die Interpretation ein. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Daten sonst oft genutzt werden, um vorher getroffene Annahmen zu stützen. Sie werden so interpretiert, dass es der politischen Agenda von Regierungsbeamten, Entwicklern oder Forschenden entspricht. Diese Rosinenpickerei wollen wir verhindern, indem wir unsere Teilnehmenden die ganze Zeit miteinbeziehen.

„Wenn man etwas für alle entwirft, dann ist es am Ende für niemanden.“

Wie und wann fühlt man sich denn in einer Stadt zugehörig?

Durch die Lebensqualität! Die Natur in der Stadt ist für nahezu alle sehr wichtig. Außerdem gibt es für verschiedene Gruppen Bereiche, die quasi für sie codiert sind. Im Latino-Viertel in Kopenhagen gibt es viele queere Angebote und Schwulenbars, es ist bekanntermaßen ein LGBTQIA+-Bereich. Unsere Teilnehmenden, die sich als queer identifizieren, haben hervorgehoben, dass sie sich dort am wohlsten fühlen, weil sie dort Eigenverantwortung erleben.

Das heißt, dass es in einer Stadt mehr Orte für spezielle Gruppen geben sollte als solche, die für alle zugänglich sind?

Viele Städteplanende wollen demokratische Orte schaffen, die allen gleichzeitig dienen sollen. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass die Bedürfnisse der Menschen eigentlich auf das Gegenteil hinweisen. Sie suchen auch Räume, die wie gruppenbasiertes Eigentum funktionieren. Viele Orte, die versuchen, offen zu sein, präsentieren sich gezielt inklusiv. Diese übermäßigen Hinweise verfehlen den eigentlichen Sinn. Das ist wohl die wichtigste Erkenntnis des Projekts: Wenn man etwas für alle entwirft, dann ist es am Ende für niemanden.

„Byer for alle!“

Oft liegt der Teufel im Detail des Designs, oder?

Ja, das erlebt man auf nahezu jedem Spaziergang durch die Stadt. Der Weg steigt an einigen Stellen an, vielleicht gibt es sogar noch Stufen, im Park dann einen Hügel. Das ist schön, aber für Rollstuhlfahrer nicht zu bewältigen. Wir wollen auf gut gemeinte, aber nicht integrative Designentscheidungen hinweisen.

Können Probleme oft auch einfach technisch gelöst werden?

Aus städtebaulicher Sichtweise werden die Probleme fehlender Zugänglichkeit meist nur technisch gelöst, zum Beispiel durch Rampen für Rollstuhlfahrer. Mithilfe der Geschichten, die wir gesammelt haben, zeigen wir, dass es mehr als technische Lösungen braucht, wenn man eine Stadt schaffen will, in der sich die Menschen zu Hause fühlen. Man muss ihnen zuhören!

Ganz persönlich: Was gibt Euch das Gefühl, in einer Stadt angekommen zu sein?

S. B.-T.: Es geht mir um die Gemeinschaft. Ich pendle seit eineinhalb Jahren zwischen Kopenhagen und New York. Das führt dazu, dass ich mich gleichzeitig nirgendwo und in beiden Städten zu Hause fühle. Gerade sitze ich in einem Café in New York. Ständig gehen Menschen ein und aus und manche von ihnen kennen sich. Schon das fühlt sich ein bisschen nach Zuhause an. Sonst liegt es bei mir viel an der Navigation – zu wissen, wie ich von A nach B komme, ohne nachschauen zu müssen, und mich intuitiv bewegen zu können. Der Grundfaktor, auf dem alle diese Zugänge aufbauen, ist finanzielle Stabilität.

S. N.: Für mich sind es die Menschen, die mir das Gefühl geben, zu Hause zu sein. Aber auch das Gefühl von Sicherheit. Ich habe da einen ganz bestimmten Ort in Amsterdam: ein Kanal in der Nähe des Hauptbahnhofs. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeifahre, fühle ich mich heimisch.

Könnt Ihr mir zum Abschluss noch einen Satz auf Dänisch beibringen?

Byer for alle! Das heißt: „Städte für alle!“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Ars Electronica Festival findet vom 6. bis 10. September in Linz statt. Hier finden Sie Informationen zum Projekt auf dem Festival.
Das Urban Belonging Project wurde 2021 gegründet und von neun Wissenschaftlerinnen und Stadtplanerinnen durchgeführt. Sie entwickelten Methoden, um ohne Sprache die Anforderungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu sammeln. In Zusammenarbeit mit Kopenhagener Gemeindeorganisationen sammelten sie in einem Zeitraum von drei Monaten mehr als 1.400 Fotos und 200 „Mental Maps“. Für ihre Entwicklung von nonverbalen Methoden zur Stadtplanung erhielten sie 2023 den „diversity and collaboration“-Award der EU.
Sabine Niederer wurde 1977 in Den Haag geboren und hat an der Amsterdam University of Applied Sciences eine Professur in visueller Methodik.
Sofie Burgos-Thorsen wurde 1992 in Kopenhagen geboren und ist Doktorandin bei Gehl-Architects, einem Kopenhagener Beratungsunternehmen für Stadtforschung und Design. Sie ist gebürtige Kopenhagenerin und pendelt zwischen Dänemark und New York.

(dp)

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