„Der Song Contest ist für mich ein wunderbares Feldexperiment."
Matthias Heschl: Sie gelten als Song Contest-Experte und sichere Quelle für Wetteinsätze. Münzen Sie ihr Fachwissen ab und zu selbst in Geld um?
Volkmar Kramarz: (lacht) Die Nummer eins vorauszusagen, ist ein bisschen
schwierig, weil bei sehr gleichwertigen Nummern ganz zum Schluss Dinge
wie Lordi oder Conchita Wurst passieren können. Relativ leicht ist es,
zu sagen, wer unter die ersten drei oder die ersten fünf kommt.
...und darauf lässt sich auch wetten?
Ja, ich muss vor meinen Studentinnen und Studenten immer ein, zwei Euro setzen und hole mir das Geld dann auch immer.
Klingt nach einem guten Nebenverdienst.
Wohl eher ein kleiner Kollateralschaden. (lacht)
Die Popmusik ist zentraler Gegenstand Ihrer Forschungen. Was bedeutet der Song Contest für Sie als Musikwissenschaftler?
Der Song Contest ist für mich ein wunderbares Feldexperiment. Denn wo sonst hören so viele Millionen Leute Songs in der Regel zum
ersten Mal und reagieren innerhalb weniger Minuten spontan. Nämlich mit
„Mag ich!“ oder „Mag ich nicht!“
„Der Erfolgs - Code lautet T-T-S-D"
Und in den meisten Fällen wird Ihre These zur sogenannten „Pop-Formel“ vollends gestützt. Wie lautet sie?
Selbst in der Popmusik herrscht immer noch der große Mythos vor, dass jedes Stück eine völlig neue Erfindung sei. Man stellt sich vor, die Musikerinnen und Musiker meditieren im Sommer unter einer großen Eiche und Töne, Melodien und Kombinationen fliegen ihnen zu. Wie es aussieht, sind es jedoch die immer gleichen Bausteine, Module, Formeln, die einen Popsong erfolgreich machen. Es ist interessant, dass praktisch alle Beiträge des Eurovision Song Contests auf den gleichen Formeln basieren – je standardisierter und limitierter desto erfolgreicher.
Verraten Sie uns die Formel!
Die wirklich erfolgreichen Popsongs basieren auf vier Dreiklängen, die sich in immer gleicher Reihenfolge wiederholen. Der Code dahinter lautet T-T-S-D. (Tonika-Tonikaparallele-Subdominante-Dominante, Anm.), was der
ersten, sechsten, vierten und fünften Stufe auf der Tonleiter
entspricht. Vereinfacht gesagt ist das eine Folge von Dreiklängen, zu
der eine passende Hauptstimme gesetzt wird. Und das Spüren der Formeln
ist in uns! Wir empfinden zum Beispiel a-Moll, F-Dur, G-Dur einfach als
sehr wohlig. Warum sollen wir etwas haben, das uns weniger befriedigt?
Die Kunst ist es, innerhalb der Vorgaben trotzdem noch etwas Eigenes zu
finden.
Inzwischen werden die Nummern beim Eurovision Song Contest oftmals von namhaften Produzentinnen oder Produzenten komponiert. Österreichs Beitrag etwa wurde von Jimmy Harry arrangiert, der unter anderem mit Madonna oder Britney Spears gearbeitet hat. Verfügen diese Songwriter eher über das nötige Rüstzeug als jemand, der nicht um die Module Bescheid weiß?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der ernsthaft beruflich in
diesem Bereich tätig ist, die Formel nicht schon mit der
„Musikmuttermilch“ aufgesogen hat. Man sieht aber trotzdem, wie jedes
Jahr versucht wird, einen Schuss Innovation, Abwechslung, Variation
hineinzubringen und immerhin nicht alle Songs auf den schnellen
weltweiten Erfolg getuned sind. Die meisten kommen dann aber doch ganz
nahe ran.
„Der große Vorteil ist gar nicht, dass die Musik gefällt, sondern dass die Musik nicht stört"
Jetzt die Frage aller Fragen: Wer sind die Favoriten 2015?
Måns Zelmerlöws „Heroes“ aus Schweden! Da hört man ganz klar, wie sie in
diesen Formelwelten schwimmen, wie konsequent sie das machen und wie
gnadenlos sie mit zeitgenössischen Gitarren-Samples umgehen – das ist
wirklich perfekt gestylt. Es ist weniger die Frage der Einfallslosigkeit
und der Begrenztheit, sondern der Künstler weiß, wie Rezipierende
funktionieren und kann ihnen innerhalb dieser Vorgaben etwas anbieten.
Das ist für mich schon ein hochkünstlerischer Akt. Haben Sie kurz Zeit?
Klar!
Volkmar Kramarz verschwindet kurz aus dem Bild und schnappt sich
seine Gitarre, um den österreichischen Beitrag „I Am Yours“ von The
Makemakes zu analysieren.
Sehr interessant sind auch der belgische (Loïc Nottet, „Rhythm Inside“),
der italienische (Il Volo, „Grande Amore“) oder estnische Beitrag
(Elina Born & Stig Rästa, „Goodbye To Yesterday“). Deutschlands
Nummer (Ann Sophie, „Black Smoke“) ist etwas schlicht, fast schon wieder
zu schlicht. Aber der schwedische Beitrag „Heroes“ überflügelt alle.
Wenn wir mal nachzählen: „Heroes“ hat zweimal fünf Takte und dann
zweimal vier Takte innerhalb der Strophe. Solche Kunstgriffe zeigen,
dass man innerhalb des starren Korsetts noch kreativ sein kann. Ich
könnte niederknien vor Bewunderung.
Was beim ersten Mal hören noch hochkünstlerisch wirkt , nutzt sich dann aber sicher schnell ab?
Würden Sie „Heroes“ zum 34. Mal vorgedudelt bekommen, würde sich der
Effekt natürlich etwas verschleißen. Aber wenn man ihn zum ersten Mal in
einer schönen Verpackung von dem unrasierten schwedischen Superstar
präsentiert bekommt, hat das in der Gesamtheit eine ganz eigene Wirkung.
Der große Vorteil ist gar nicht, dass die Musik gefällt, sondern dass
die Musik nicht stört.
Welche Rolle spielen Aussehen, Performance oder Songtext?
Das ist ein Bereich, den andere sicher besser als ich erforscht haben.
Aber es scheint sich im Endeffekt immer wieder herauszuschälen, dass die
Musik die wirklich wichtige Komponente ist. Wenn der musikalische Teil
des Songs wirklich gefällt, dann scheint das Publikum die Performance
oder die Songtexte widerspruchslos zu akzeptieren.
Apropos akzeptieren: Wien versucht sich ja aktuell als eine weltoffene „Stadt der Akzeptanz und Toleranz“ darzustellen. Sie haben ja selbst hier unterrichtet. Wie passt das für Sie?
Wien ist trotz all seiner alten Pracht eine sehr fröhliche und liberale
Stadt. Die positive Stimmung gegenüber Touristinnen und Touriten ist
überall spürbar für mich. Der Erfolg einer Dragqueen wie Conchita Wurst
spricht doch für sich selbst. Wenn ich in Wien ankomme, kaufe ich mir
erst einmal meine Packung Manner am Stephansplatz. So wie sich andere
eben eine Tüte Haribo hier in Bonn kaufen.