Babygeschrei im Bunker, Legoblumen im alten Schwimmbad: Wir waren bei der Berlin Fashion Week, standen in unzähligen Schlangen und ernährten uns von Snacks aus Goodie-Bags. Mode ist nicht nur Kleidung – sie ist Sound, Licht, Statement, Performance, und sie ist Kunst. Der Stadtraum wurde aufgerissen und mit selten gesehener nachhaltiger Kreativität und Diversität gefüllt. Ein Lokalaugenschein, Teil I.
Auch Österreich ist vertreten: Marina Hoermanseder (*1986, Wien) ließ in einem alten Schwimmbad, dem heutigen Hotel Oderberger, Luftballons fliegen, Kerzen brennen und Blumen aus Legosteinen verteilen. Sie lud zum 10. Geburtstag ihrer Modemarke.
Während der Rest der Fashion Week von versteckten Botschaften und einer nachhaltigen oder politischen Agenda dominiert wurde, suchte man diese hier vergeblich. Das Publikum sollte für eine Stunde in eine perfekte Welt ohne Sorgen entführt werden, wieder Kind sein dürfen. Luftballons aus veganem Leder, überdimensionale Schleifen, bunte Blumen, Wackelaugen, funkelnde Strasssteine – alles, was Kinder lieben, wurde ausgegraben und zusammengesetzt. Laura Abla, eine deutsche Influencerin, trug ein 25 Kilogramm schweres Legokleid. Highlights sind Hoermanseders ikonische, wenn auch bewegungseinschränkende Kleider, die an Matrjoschka-Puppen erinnern. Bei Marina erwartet man „Mehr ist mehr“ – und bekommt genau das (und mehr)! Sie griff wortwörtlich nach den Sternen.
Plastikberge statt recycelter Fahrradteile, Gute-Laune-Pop statt Berliner Techno, Reality-Sternchen statt Berlin-Underground-Szene. Hier wird nicht jede angesprochen – es ist kommerzieller als der Großteil der folgenden Shows, es ist bunt und laut – und es funktioniert. Hoermanseder lebt ihren eigenständigen Traum im Marina-Land, und auch wenn wir bei manchen Looks und Aussagen wortwörtlich die Augen verdrehen müssen, zeigt sie, dass sich rosarote-Brille-Naivität, ein klares Konzept und Erfolg nicht ausschließen. Internationale Promis sehen es ähnlich: Lady Gaga trug ihre Schnallen-Jeans in Neontönen, Jennifer Lopez einen quietschgelben Schlangen-Schnallen-Look. Fun Fact: Wenn die Looks von der Prominenz zurückkommen, rieche sie immer daran, wie ein Stalker", verrät sie lachend – sie lebt ihr eigenes Motto und behält ihre kindliche Freude. Einen Tag vor der Show hat sie sich einen Ballonregen gewünscht – und bekommen. Ihre zwei Kinder können sich auf fulminante Geburtstage freuen ...
Bleigießen in XXL: SVEASØNs Debüt zwischen Ritual und Skulptur. Mit ihrer ersten Show wagte das Hamburger Label einen Bruch mit klassischen Laufsteg-Inszenierungen – und ließ stattdessen die Grenzen zwischen Mode, Performance und Skulptur verschwimmen. Im Berliner KINDL-Zentrum für zeitgenössische Kunst präsentierten die Gründerinnen Svea Beckedorf, Absolventin der renommierten Central Saint Martins in London, und Shirin Benkus, die Erfahrungen in der Mode- und Textilbranche besitzt, eine hypnotische Tanzperformance. Zwischen schwarzem Schnee und monumentalen Metallskulpturen, die an überdimensionale Bleigieß-Figuren erinnerten, entstand eine surreale Atmosphäre voller Mystik und Bewegung.
Skianzüge aus der Zukunft und Funktionalität treffen auf Experiment: Ihre Kollektion setzt auf nachhaltige Thermore-Wattierung, Deadstock-Stoffe, Tie-Dye-Muster und Kordeldetails – spielerisch adaptiert für wandelbare Designs. Wendbare, größenverstellbare Kleidungsstücke wurden von den Tänzerinnen aka Models nicht nur getragen, sondern gingen in Interaktion mit den Skulpturen und wurden Teil der Inszenierung – ein unerwartetes Highlight, das Lust auf Mode und einen Ausflug in die tiefste Schneelandschaft macht!
„Meine Kollektion ist von der Molybdomantie beeinflusst, einer alten Wahrsagepraxis, bei der geschmolzene Metalle verwendet werden, um Formen zu schaffen, die später interpretiert werden. Dies entspricht meiner Herangehensweise an die Bildhauerei und das Entwerfen von Kleidungsstücken, die organische Formen entstehen lassen", so Svea Beckedorf.
Im historischen Fichtebunker, mit Babygeschrei, ohne Empfang: Ein ehemaliger Schutzraum für Mütter und Kinder aus Kriegszeiten wurde zum Austragungsort der AW25/26-Kollektion. Es ging um Widerstandsfähigkeit und Schutz. Stretchkleider wie eine zweite Haut, die mit Kapuzen, die bis oben hin geknöpft an einen Babykopf erinnerten, vermittelten Zwang, aber auch Intimität. In den Shownotes erklärt das Designduo: „Wir erforschen die Tiefe der emotionalen und körperlichen Erschöpfung durch die Bilder einer müden und überlasteten Mutter, die sich in einem Ausnahmezustand befindet."
Ein Model trug zwei Kanister Milch, ein anderes hielt ein Straußenei, aus dem eine Blume erblühte. Eines der Kleider wurde von einem hochschwangeren Model getragen, eine Mutter und ihr Sohn liefen Hand in Hand. Die durch den fehlenden Empfang zwangsauferlegte Abgeschottenheit ermöglichte vollkommenen Fokus: Die Location trug ihren Teil dazu bei, dass man hier nicht „nur" Mode sah, sondern eine Kollektion und das Konzept dahinter fühlte – die Liebe, die Ausdauer, die Schwere, das Leid der Mutter.
Die in Berlin ansässige Modemarke, die von Jale Richert und Michele Beil 2014 gegründet wurde, verbindet die Berlin-Underground-Szene mit Handwerkskunst: Da in Deutschland nicht viel Modehandwerk überlebte, ließen sie sich vom Trachtenbereich inspirieren. Sie stellen keine Dirndl oder Lederhosen her, aber adaptieren Kunsthandwerkstechniken, wie zum Beispiel die Herstellung von Miedern und schaffen es, trotz avantgardistischem Design, präzisen Linien und monochromem Farbschema zu überraschen.
In der Spreehalle gab es keinen Laufsteg, keine Sitzplätze. Zarte Tülllagen, hochgeschlossene Kragen und kunstvolle Drucke versteckten sich in der Dunkelheit und wurden von einem wandernden Lichtstrahl gefunden. Bei der Berlin-Fashion-Week-Debütshow wurden die Grenzen zwischen Mode, Kunst und Performance vermischt.
Verwirrt: Das waren wir, als wir zu Beginn aufgefordert wurden, von den Bänken am Rand der Halle aufzustehen und uns im Raum zu bewegen. Der grüblerische, aber vor allem laut pulsierende Soundtrack von Moritz Kniepkamp entführte uns in eine surreale Welt, in der Models mit Tülltüchern vor dem Gesicht durch den Raum irrten und mit Leuten im Publikum zusammenstießen – Absicht oder Fauxpas? Das war das Spannende an der Show, man wusste und verstand nicht sofort was passierte, und wurde zugleich Teil davon.
Mit Multipliancy erforschte der 24-Jährige Laurin Schuler, der Modedesign an der Kunsthochschule Weißensee studierte, die Schönheit der Komplexität. Unser Highlight: Acht Fotos von Künstler Anton Röntz wurden neu zusammengesetzt! Schuler entwickelte eine Technik, um Bilder in mehreren Schichten aufgeteilt auf hauchdünnem Tüll zu drucken. Jede Schicht, jedes Gesicht erzählte eine Geschichte.
Reflektierende Fahrradteile als Neckholder-Tops und Steppdecken als Kleid: Die französische Designerin Lou de Bètoly präsentierte ihre Kollektion im historischen Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste von meinen vierzig Looks? Die Models stolzierten eine Treppe hinunter und umrundeten ein einsames in der Mitte des quadratischen Raums positioniertes Klavier. Weniger einsam ging es im Publikum zu, auf allen vier Seiten versuchte man einen Blick auf die Designs zu erhaschen und auf die First Row, die mit Bliss Foster, der Modekritiker-Liebling unserer Redaktion, VOGUE-Germany-Chefredakteurin Kerstin Weng und Christiane Arp, die Initiatorin des Berliner Salons und Vorstandsvorsitzenden des Fashion Council Germany, international besucht war.
Das Handwerk sprach für sich: Alle Designs wurden aus gebrauchten Materialien akribisch per Hand zusammengenäht, Unterhemden zu Röcken, BHs zu Oberteil-Dekonstruktionen und Strickwaren wurden mit Hühnerfedern aus dem Familiengarten verziert. Die in Berlin lebende Französin, die ihr gleichnamiges Label im Jahr 2018 gründete, schuf ein Gleichgewicht zwischen Exklusivität im Couture-Stil und zugänglicher Mode für alle, die das nötige Kleingeld haben: Manche Designs werden von Händlern wie APOC Store angeboten, andere sind Einzelstücke, die nur auf Bestellung gefertigt werden – etwa für Beyoncé.
Soweit so bezaubernd: Bei den Accessoires hörte die Sprachlosigkeit auf und Fragen häuften sich. Schwarze Skibrillen verdeckten die Sicht vieler Models. Vielleicht trug auch die Designerin diese zu oft und übersah, dass die Kleider ausschließlich an Size-Zero-Models gezeigt wurden. Wir lieben die gute alte Handarbeit, aber bei der Modelwahl ist ein Schritt in die Gegenwart angebracht.
Designer Mario Keine, der bereits im Alter von 13 Jahren beschloss Modedesigner zu werden, entführte uns mit seiner 2022 gegründeten Brand auf eine melancholische Zeitreise zwischen Liebe und Trauer: ein Stück in drei Akten. Zuerst wurde jugendlicher Idealismus zelebriert, Vintage-Perlen wurden zwischen Körper und fließenden Silhouetten eingearbeitet. Dann wurde es düster: Trauerkleidung in dunklen Tönen und schweren Formen. Und im Finale symbolisierten zerrissene Stoffe den Verfall, die Auflösung der Realität. Ein Grenztanz zwischen Realität und Tagtraum?
In der historischen Villa Elisabeth überkam einem beim Betreten der geisterhaften Räume mit bröckelndem Stuck, abblätternden Tapeten und in Staubtücher gehüllten Möbeln ein Gefühl der Beklommenheit. Er lies sich von historischen und literarischen Vorbildern inspirieren – Miss Havisham aus Charles Dickens Buch „Great Expectations" und der rätselhafte Stephen Tennant, eine britische Persönlichkeit und eine der zentralen Figuren des Bright Young Things, einer Gruppe von wohlhabenden, extravaganten und dekadenten jungen Menschen, die in den 1920er Jahren in London lebten.
Keine zeigt, wie bittersüß Sehnsucht sein kann und fragt sich: Sind Erinnerungen jemals schön? Es schmerzt, wenn sie zu weit weg sind, um sie zurückzufordern. Und es schmerzt, wenn sie zu nah sind, um sie loszulassen. Mario Keine lebt seine Unisex-Ästhetik so weit, dass man nach der Fashion Show nicht sagen kann, ob Männer und oder Frauen am Laufsteg liefen. Auch hier wird mit nachhaltigen, aus Restbeständen gewonnenen Materialien gearbeitet und gezeigt, dass Nachhaltigkeit nicht wie Do-it-Yourself aussehen muss, sondern elegant kann. Zumindest die Schönheit und Raffinesse der Kollektion ist real!
Autumn/Winter 25 (31. Januar bis 3. Februar 2025) zeichnete sich nicht durch klassische High-Fashion-Größen aus, wie man es von Social Media von der Paris Fashion Week kennt. Hier liegt der Fokus auf Nachhaltigkeit, Inklusivität und Kreativität. Etablierte Labels wie William Fan zeigen neben Uniabgängern wie Laurin Schuler im offiziellen Kalender. Möglich ist das unter anderem durch den Berlin Contemporary Wettbewerb. Zum fünften Mal vergibt die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe in Zusammenarbeit mit dem
Preise für innovative Show- und Präsentationskonzepte. Aus insgesamt 91 Einreichungen wurden 19 Gewinnerinnenkonzepte ausgewählt, die jeweils mit 25.000 Euro prämiert wurden.